Tschick (German Edition)
so und setzt sich an mein Bett, weil ich ja sonst praktisch keinen Besuch kriege, und es sind richtig gute Unterhaltungen, die wir da führen. Richtige Erwachsenenunterhaltungen. Mit Frauen wie Hanna ist es immer unfassbar viel leichter, sich zu unterhalten, als mit Mädchen in meinem Alter. Falls mir jemand erklären kann, warum das so ist, kann er mich übrigens gern anrufen, weil, ich kann es mir nämlich nicht erklären.
4
Der Arzt ist weniger unterhaltsam. «Das ist nur ein Stück Fleisch», sagt er, «Muskel», sagt er, «ist nicht schlimm, das wächst nach. Bleibt vielleicht ’ne kleine Delle oder Narbe», sagt er, «das sieht dann sexy aus», und das sagt er jeden Tag. Jeden Tag guckt er sich den Verband an und erzählt genau das Gleiche, dass da ’ne Narbe bleibt, dass das nicht schlimm ist, dass das später mal aussieht, als wär ich im Krieg gewesen. «Als wärst du im Krieg gewesen, junger Mann, da stehen die Frauen drauf», sagt er, und es soll wohl irgendwie tiefsinnig sein, aber ich versteh den Tiefsinn nicht, und dann zwinkert er mich an, und meistens zwinker ich zurück, obwohl ich’s nicht verstehe. Schließlich hat der Mann mir geholfen, da helfe ich ihm auch.
Später werden unsere Gespräche besser, vor allem, weil sie ernster werden. Beziehungsweise, es ist eigentlich nur ein Gespräch. Als ich wieder humpeln kann, holt er mich in sein Zimmer, in dem ausnahmsweise mal ein Schreibtisch steht und kein medizinisches Gerät, und da sitzen wir uns dann gegenüber wie Firmenchefs, die den nächsten Deal eintüten. Auf dem Tisch steht ein menschlicher Oberkörper aus Plastik, wo man die Organe rausnehmen kann. Der Dickdarm sieht aus wie ein Gehirn, und vom Magen blättert die Farbe ab.
«Ich muss mal mit dir reden», sagt der Arzt, und das ist logisch der dümmste Gesprächsanfang, den ich kenne. Und dann warte ich, dass er mit Reden anfängt, aber das gehört zu diesem Anfang leider dazu, dass man sagt, ich muss mal mir dir reden, und dann erst mal nicht redet. Der Arzt starrt mich also an, senkt dann seinen Blick und klappt einen grünen Pappordner auf. Oder klappt ihn nicht auf, sondern öffnet ihn, wie ich mir vorstelle, dass er einem Patienten die Bauchdecke aufschneidet. Sehr umsichtig, sehr kompliziert, sehr ernst. Der Mann ist Chirurg. Glückwunsch.
Was danach kommt, ist schon weniger interessant. Im Grunde will er nur wissen, wo meine Kopfwunde herkommt, vorne rechts. Auch wo die anderen Wunden herkommen – von der Autobahn, wie gesagt, okay, das wusste er schon –, aber die Kopfwunde, da bin ich vom Stuhl gefallen, auf der Station der Autobahnpolizei.
Der Arzt legt die Hände an den Fingerspitzen zusammen. Ja, so würde das da auch im Bericht drinstehen: vom Stuhl gefallen. Auf der Polizeistation.
Er nickt. Ja.
Ich nicke auch.
«Wir sind hier unter uns», sagt er nach einer Weile.
«Ist mir klar», sage ich wie der letzte Blödmann und zwinkere erst dem Arzt zu und dann zur Sicherheit auch nochmal dem Plastikoberkörper.
«Du kannst hier über alles sprechen. Ich bin dein Arzt, und das heißt in diesem Fall, ich habe eine Schweigepflicht.»
«Ja, gut», sage ich. So was Ähnliches hatte er mir vor ein paar Tagen schon mal angedeutet, ich hab’s jetzt begriffen. Der Mann hat eine Schweigepflicht, und er erwartet jetzt, dass ich ihm etwas erzähle, damit er davon schweigen kann. Aber was? Wie übertrieben geil es ist, sich vor Angst in die Hose zu pissen?
«Es ist ja nicht nur die Handlungsweise. Das ist eine Verletzung der Aufsichtspflicht. Die hätten sich nicht auf deine Angaben verlassen dürfen, verstehst du? Die hätten nachgucken und vor allem sofort den Arzt rufen müssen. Weißt du, wie kritisch das war? Und du sagst, du bist vom Stuhl ge fallen ?»
«Ja.»
«Es tut mir leid, aber wir Ärzte sind misstrauische Menschen. Ich meine, die wollten doch einiges von dir. Und ich als dein behandelnder Arzt …»
Ja, ja. Himmel. Schweigepflicht. Schon klar. Aber was will er denn jetzt wissen? Wie man vom Stuhl fällt? Seitlich runter und dann plumps? Er schüttelt erst lange den Kopf, dann macht er eine winzige Bewegung mit der Hand – und da erst wird mir klar, worauf er hinauswill. Mein Gott, steht bei mir einer auf der Leitung. Immer diese Scheißpeinlichkeit. Warum redet er nicht Klartext?
«Nee, nee!», rufe ich und winke mit den Händen in der Luft herum, als würde ich riesige Fliegenschwärme abwehren. «Alles korrekt! Ich hab auf dem Stuhl gesessen und mein
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