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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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offensichtlich schief, ich musste durch das Seitenfenster aussteigen. Dann fiel ich sofort über irgendwas auf der Straße. Ich richtete mich wieder auf, fiel wieder hin und landete in einem blutigen Matsch. Ein totes Schwein. Ein paar Meter hinter uns hatte ein roter Opel Astra gebremst. In ihm saßen eine Frau und ein Mann und hielten mit den Zeigefingern die Knöpfe an den Türen runtergedrückt. Ich setzte mich auf ihre Kühlerhaube und fasste mit einer Hand die Antenne an. Ich konnte nicht mehr stehen, und diese Antenne fühlte sich wirklich sehr gut an. Niemals im Leben wollte ich diese Antenne wieder loslassen. «Bist du okay?», rief Tschick noch einmal, der hinter mir aus dem Auto geklettert war.
    In diesem Moment kam ein Schwein schreiend um den umgekippten Laster gerannt. Hinter ihm eine Menge anderer Schweine. Das vorderste rannte blutend über die Autobahn auf eine Böschung zu. Einige galoppierten hinterher. Aber die meisten blieben stehen, und sie standen zwischen toten Schweinen und zerschossenen Käfigen und schrien vor Verzweiflung. Und dann sah ich am Horizont die Polizei auftauchen. Ich wollte erst wegrennen, aber ich wusste, es hat keinen Sinn, und die letzten beiden Bilder, an die ich mich erinnere, sind: Tschick, der mit seinem Gipsfuß die Böschung runterhumpelt. Und der Autobahnpolizist, der mit freundlichem Gesichtsausdruck neben mir steht und meine Hand von der Antenne löst und sagt: «Die kommt auch ohne dich klar.»
    Und den Rest habe ich ja schon erzählt.

45
    «Er begreift es nicht.» Mein Vater drehte sich zu meiner Mutter um und sagte: «Er begreift es nicht, er ist zu dumm!»
    Ich saß auf einem Stuhl, und er saß mir gegenüber auf einem Stuhl und beugte sich so weit vor, dass sein Gesicht direkt vor meinem Gesicht war und seine Knie von außen gegen meine drückten, und ich konnte bei jedem Wort, das er schrie, sein Rasierwasser riechen. Aramis. Geschenk von meiner Mutter, zum hundertsiebzigsten Geburtstag.
    «Du hast mächtig Scheiße gebaut, ist dir das klar!»
    Ich antwortete nicht. Was sollte ich antworten? Klar war mir das klar. Und er sagte es ja auch nicht zum ersten, sondern zum ungefähr hundertsten Mal heute, und was er jetzt noch von mir hören wollte, wusste ich nicht.
    Er sah meine Mutter an, und meine Mutter hustete.
    «Ich glaube schon, dass er’s begreift», sagte sie. Sie rührte mit dem Strohhalm im Amaretto rum.
    Mein Vater packte mich an den Schultern und schüttelte mich. «Weißt du, wovon ich rede? Sag gefälligst was!»
    «Was soll ich denn sagen? Ich hab doch ja gesagt, ja, es ist mir klar. Ich hab’s verstanden.»
    «Gar nichts hast du verstanden! Gar nichts ist dir klar! Er denkt, es geht um Worte. Ein Idiot!»
    «Ich bin kein Idiot, nur weil ich zum hundertsten Mal –»
    Zack, scheuerte er mir eine.
    «Josef, lass doch.» Meine Mutter versuchte aufzustehen, verlor aber sofort das Gleichgewicht und ließ sich zurück in den Sessel neben der Amarettoflasche sinken.
    Mein Vater beugte sich ganz dicht zu mir vor. Er zitterte vor Aufregung. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust, und ich versuchte mit meinem Gesicht eine Art Zerknirschung auszudrücken, weil mein Vater das vermutlich erwartete und weil ich wusste, dass er die Arme nur verschränkte, weil er kurz davor war, mir noch eine zu scheuern. Bis dahin hatte ich einfach nur gesagt, was ich dachte. Ich wollte nicht lügen. Diese Zerknirschung war die erste Lüge, die ich mir an diesem Tag leistete, um die Sache abzukürzen.
    «Ich weiß, dass wir Scheiße gebaut haben, und ich weiß –»
    Mein Vater holte mit dem Arm aus, und ich zog den Kopf ein. Diesmal brüllte er aber nur: «Nein, nein, nein! Ihr habt überhaupt keine Scheiße gebaut, du Vollidiot! Dein asiger Russenfreund hat Scheiße gebaut! Und du bist so dämlich, dich da reinziehen zu lassen. Du bist doch allein zu blöd, um an unserem Auto den Rückspiegel zu verstellen!», rief mein Vater, und ich machte ein genervtes Gesicht, weil ich ihm schon ungefähr zehntausend Mal erklärt hatte, wie es wirklich gewesen war, auch wenn er’s nicht hören wollte.
    «Glaubst du, du bist allein auf der Welt? Glaubst du, das fällt nicht auf uns zurück? Was meinst du, wie ich jetzt dasteh? Wie soll ich den Leuten Häuser verkaufen, wenn mein Sohn ihre Autos klaut?»
    «Du verkaufst doch eh keine Häuser mehr. Deine Firma ist doch –»
    Zack, krachte es in mein Gesicht, und ich fiel zu Boden. Alter Finne. Auf der Schule heißt es ja immer,

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