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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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klitschnass.
    «Alles frei, zieh rüber!» Tschick legte den dritten und dann den vierten Gang ein, und langsam ließ meine Aufregung nach.
    Als der erste fette Audi mit fünfhundert Stundenkilometern an uns vorbeiraste, erschrak ich noch, aber nach einer Weile hatte ich mich beruhigt, und im Grunde war Autobahn fahren viel einfacher als Kurven fahren und bremsen und schalten und beschleunigen. Ich hatte eine Fahrspur für mich allein und musste nur noch geradeaus. Ich sah die weißen Striche wie in der PlayStation auf mich zurasen – was tatsächlich verdammt anders aussieht, wenn man in einem richtigen Auto auf einem richtigen Fahrersitz sitzt, da kann keine Grafikkarte mithalten. Der Schweiß floss in Strömen und klebte meinen Rücken am Sitz fest. Tschick pappte mir zuletzt noch ein Stückchen schwarzes Isolierband auf die Oberlippe, und dann fuhren wir und fuhren.
    Clayderman klimperte, und dass er da so klimperte und dazu das eingedetschte Dach, Tschicks zerstörter Fuß und dass wir in einer hundert Stundenkilometer schnellen, fahrenden Müllkippe unterwegs waren, machte ein ganz seltsames Gefühl in mir. Es war ein euphorisches Gefühl, ein Gefühl der Unzerstörbarkeit. Kein Unfall, keine Behörde und kein physikalisches Gesetz konnten uns aufhalten. Wir waren unterwegs, und wir würden immer unterwegs sein, und wir sangen vor Begeisterung mit, soweit man bei dem Geklimper mitsingen konnte.

42
    Wir fuhren bis zur Dämmerung auf der Autobahn und bogen dann wieder aufs Land ein, irgendwo in der tiefsten Provinz. Ich rollte, ohne zu schalten, im dritten Gang durch die Felder, und alles war ganz still, und der Abend war still, und die Felder waren gelb und grün und braun, und sie wurden immer farbloser. Tschick hatte seine Ellenbogen bei sich aus dem Fenster gehängt und den Kopf draufgelegt, und auch ich hatte meinen linken Arm aus dem Fenster gehängt wie bei einer Bootsfahrt, wenn man ins Wasser greift. Zweige von Bäumen und Sträuchern streiften meine Hand, und mit der anderen Hand steuerte ich den Lada durch die nächtliche Landschaft.
    Der letzte Lichtschein verschwand vom Horizont. Es wurde eine mondlose Nacht, und ich erinnerte mich daran, wann ich zum ersten Mal eine Nacht gesehen hatte oder wann mir zum ersten Mal aufgefallen war, was das eigentlich ist, die Nacht. Was Nacht eigentlich bedeutet. Da war ich acht oder neun, und das hatte ich Herrn Klever zu verdanken. Herr Klever wohnte im Mietshaus gegenüber, und wir wohnten auch noch im Mietshaus, und am Ende der Straße fing ein Gerstenfeld an. In diesem Gerstenfeld hatte ich abends mit Maria gespielt. Wir waren auf allen vieren durch das Feld gekrochen und hatten Gänge gemacht, ein riesiges Labyrinth. Und dann kam Klever, ein alter Mann mit einem Dackel und einer Taschenlampe. Klever wohnte im dritten Stock und hat uns immer angeschrien. Der hatte einen Riesenhass auf Kinder. Und der ist da mit seinem Dackel rumspaziert und hat mit seiner Taschenlampe ins Kornfeld reingeleuchtet und geschrien, dass wir den Bauern ruinieren. Und dass wir sofort rauskommen sollten und dass er die Polizei ruft und uns anzeigt und dass das Tausende von Euro kostet. Da waren wir acht oder neun, wie gesagt, und wussten noch nicht, dass das nur blödes Rentnergeschrei ist, und in unserer Angst sind wir aus dem Feld rausgerannt. Maria war klug und ist zu unserm Block hin, aber ich bin zuerst in die andere Richtung, und dann stand da der Alte mit seinem Dackel und hat mir den Rückweg versperrt. Und der ging da auch nicht weg, der funzelte mit seiner Lampe rum und schrie, ich müsste ihm meinen Namen sagen, damit er mich melden könnte, und als er immer weiter da stehen blieb, bin ich schließlich in die entgegengesetzte Richtung gelaufen.
    Ich bin über die Felder und dann Hogenkamp rein, weil ich dachte, ich könnte vielleicht einmal ganz außen rum. Den Weg kannte ich ja von tagsüber. Aber jetzt war der Hogenkamp dunkel und von riesigen Sträuchern zugewachsen. Dahinter der Hogenkamp-Spielplatz, wo wir nie hingegangen sind, weil da immer Große waren, aber jetzt in der Nacht war natürlich alles frei. Die riesige Seilbahn war frei. Das war ein ganz komisches Gefühl. Ich hätte jetzt alles für mich haben können, ich hätte überhaupt alles machen können, aber ich blieb nicht stehen und rannte und rannte. Und auf dem ganzen Weg kein Mensch. An den kleinen Häusern brannten Lichter vor den Türen, dann im Dauerlauf durch die Lönsstraße, und auch da kein Mensch.

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