Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
Vom Netzwerk:
hielt zur Tarnung genau auf den Lkw zu. Er fuhr leichte Schlangenlinien, und ich wusste nicht, auf welcher Seite ich vorbei sollte.
    «Fahr auch Schlangenlinien», sagte Tschick. «Und im letzten Moment dann zack.»
    Ich hatte den Fuß immer noch voll auf dem Gas, und ich muss dazusagen, dass ich in diesem Moment gar nicht wahnsinnig aufgeregt war. Dieses Schlangenlinienfahren kannte ich von der PlayStation. Schlangenlinienfahren kam mir viel normaler vor als Geradeausfahren, und der Schweinetransporter benahm sich wie ein typisches Hindernis. Ich hielt also auf das Hindernis zu, um im letzten Moment auf die Standspur zu ziehen, und ich nehme an, genau das hätte ich auch getan, wenn Tschick nicht gewesen wäre. Wenn Tschick nicht gewesen wäre, hätte ich das nicht überlebt.
    «BREMS!», schrie er. «BREEEEEEMS!», und mein Fuß bremste, und ich glaube, erst sehr viel später habe ich den Schrei gehört und verstanden. Der Fuß bremste von allein, weil ich ja auch vorher schon immer gemacht hatte, was Tschick sagte, und jetzt schrie er «Bremsen», und ich bremste, ohne zu wissen warum. Denn es gab eigentlich keinen Grund zu bremsen.
    Zwischen dem Laster und der Leitplanke wäre Platz für mindestens fünf Autos gewesen, und es wäre mir frühestens im Jenseits aufgefallen, dass der Lkw diese Seite der Autobahn gar nicht frei gemacht hatte, sondern frei gerutscht . Sein Heck war nach links geschmiert, und obwohl wir genau hinter dem Laster fuhren, sah ich auf einmal direkt vor mir die Fahrerkabine auf der Mitte der Autobahn – und wie sie vom Heck links überholt wurde. Der Lastwagen verwandelte sich in eine Schranke. Die Schranke rutschte vor uns davon, auf der ganzen Breite der Autobahn, und wir rutschten hinterher. Es war ein so ungewohnter Anblick, dass ich hinterher dachte, es hätte mehrere Minuten gedauert. In Wirklichkeit dauerte es nicht einmal so lange, dass Tschick ein drittes Mal «BREMS!» schreien konnte.
    Der Lada drehte sich leicht seitwärts. Die Schranke vor uns neigte sich unentschlossen nach hinten, kippte krachend um und hielt uns zwölf rotierende Räder entgegen. Dreißig Meter vor uns. In absoluter Stille glitten wir auf diese Räder zu, und ich dachte, jetzt sterben wir also. Ich dachte, jetzt komme ich nie wieder nach Berlin, jetzt sehe ich nie wieder Tatjana, und ich werde nie erfahren, ob ihr meine Zeichnung gefallen hat oder nicht. Ich dachte, ich müsste mich bei meinen Eltern entschuldigen, und ich dachte: Mist, nicht zwischengespeichert.
    Ich dachte auch, ich sollte Tschick sagen, dass ich seinetwegen fast schwul geworden wäre, ich dachte, sterben muss ich sowieso, warum nicht jetzt, und so rutschten wir auf diesen Lkw zu – und es passierte nichts. Es gab keinen Knall. In meiner Erinnerung gibt es keinen Knall. Dabei muss es wahnsinnig geknallt haben. Denn wir rauschten vollrohr in den Laster rein.

44
    Einen Moment lang spürte ich nichts. Das Erste, was ich wieder spürte, war, dass ich keine Luft bekam. Der Sicherheitsgurt schnitt mich in der Mitte entzwei, und mein Kopf lag fast auf dem Gaspedal. Dort lag auch Tschicks Gipsbein irgendwo. Ich richtete mich auf. Oder ich drehte jedenfalls den Kopf. Über der gesprungenen Windschutzscheibe hing ein Lkw-Rad und verdunkelte den Himmel. Das Rad drehte sich geräuschlos. Auf der Radnabe war ein schmutziger, blitzförmiger Aufkleber, ein roter Blitz auf gelbem Grund. Ein faustgroßer Klumpen Dreck pendelte von der Achse, löste sich ganz langsam und flatschte auf die Windschutzscheibe.
    «So viel dazu», sagte Tschick. Er hatte es also auch überlebt.
    Tosender Applaus brandete auf. Es hörte sich an, als ob eine riesige Menge schrie, pfiff, johlte und mit den Füßen trampelte, und das kam mir nicht ganz unberechtigt vor, denn für einen Amateur-Autofahrer war meine Bremsleistung eine Bremsleistung der Extraklasse gewesen. Das war jedenfalls meine Meinung zu dem Thema, und es wunderte mich nicht, dass auch andere dieser Meinung waren. Nur war ja gar kein Publikum da.
    «Bist du okay?», fragte Tschick und rüttelte an meinem Arm.
    «Ja. Und du?»
    Die Beifahrerseite neben Tschick war zwanzig Zentimeter weit ins Auto gedrückt worden, aber sehr gleichmäßig. Alles lag voller Scherben.
    «Ich glaub, ich hab mich geschnitten.» Er hielt eine blutige Hand hoch. Das Publikum brüllte und pfiff immer noch, es mischte sich aber auch schon Grunzen darunter.
    Ich befreite mich vom Sicherheitsgurt und kippte zur Seite. Das Auto lag

Weitere Kostenlose Bücher