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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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Das war ein Riesenumweg, eine Schleife von mindestens vier Kilometern, aber laufen konnte ich damals wie ein Weltmeister. Und plötzlich gefiel mir das ganz gut, wie ich da durch diese dunkle, menschenleere Welt lief, ich wusste überhaupt nicht mehr, ob ich noch Angst hatte oder nicht, und ich dachte gar nicht mehr an Klever.
    Natürlich war ich auch früher schon nachts draußen gewesen, aber das war nicht das Gleiche. Das war immer mit den Eltern oder auf der Autofahrt von Verwandten zurück oder so. Jetzt war es eine ganz neue Welt, eine vollkommen andere Welt als bei Tag, es war, als hätte ich auf einmal Amerika entdeckt. Ich sah auf dem ganzen Weg niemanden, und dann sah ich plötzlich zwei Frauen. Die hockten auf der Treppe vor dem China-Restaurant, und ich begriff nicht, was die da machten. Die eine schluchzte und schrie: «Ich geh da nicht rein! Ich geh da nicht mehr rein!» Und die andere hat versucht, sie zu trösten, aber sie schaffte es nicht. Über ihnen leuchteten die chinesischen Schriftzeichen gelb und rot durch die Nacht, das Haus war überschattet von dunklen Bäumen, und im Vordergrund joggte ein Achtjähriger vorbei. Ich war völlig irritiert. Die Frauen waren wahrscheinlich auch irritiert und haben sich gefragt, was joggt ein Achtjähriger da mitten in der Nacht herum, und wir haben uns einen Moment lang in die Augen gesehen, sie schluchzend und ich laufend, und ich weiß auch nicht, warum das auf mich einen so starken Eindruck gemacht hat. Aber ich hatte noch nie in meinem Leben erwachsene Frauen weinen sehen, und das hat mich wahnsinnig lange beschäftigt damals. Und so eine Nacht ist es jetzt wieder.
    Ich habe den Kopf zur Seite gelegt und schaue hinaus, und der Lada zieht leise die kurvige Straße durch die blaugrünen Kornfelder des Sommers. Irgendwann sage ich, ich will mal anhalten, und ich halte an. Im Dunkeln liegt das Land, liegen Wiesen und Wege, und wir stehen vor einer großen Ebene, auf der in der Ferne der schwarze Umriss eines Bauernhofs zu sehen ist. Und als ich gerade etwas sagen will, geht links in einem kleinen Fenster im Bauernhof ein grünes Licht an, und ich sage nichts mehr. Ich kann nicht mehr. Schließlich legt Tschick seinen Arm um meine Schultern und sagt: «Wir müssen weiter.»
    Und wir steigen ein und fahren weiter.

43
    Am nächsten Tag waren wir wieder auf der Autobahn. Uns überholte ein riesiger Lkw, der aussah wie aus Schweineställen zusammengenagelt. Ein paar Räder unten dran, eine rostige Fahrerkabine, ein Nummernschild aus, weiß der Geier, Albanien. Wie man erst auf den zweiten Blick sehen konnte, waren die Schweineställe wirklich Schweineställe. Nebeneinander und übereinander stapelten sich die Käfige, und aus jedem guckte ein Schwein.
    «Scheißleben», sagte Tschick.
    Es ging leicht bergauf, und der Lkw brauchte eine halbe Stunde, um uns zu überholen. Als wir gerade seine Hinterreifen sehen konnten, fiel er wieder zurück. Nach einer Weile tauchte erneut das Fahrerhäuschen neben uns auf. Jemand kurbelte das Beifahrerfenster runter.
    «Hat der dich gesehen?», fragte Tschick. «Oder guckt der die Beule in unserem Dach an?»
    Ich ging vom Gas, um ihm das Vorbeikommen leichter zu machen. Der Lkw blinkte, setzte sich vor uns auf die Spur und wurde noch langsamer.
    «Was ist denn das für ein Scheißidiot?», sagte Tschick.
    Wir fuhren höchstens noch sechzig. Fünfundfünfzig.
    «Überhol ihn einfach.»
    Ich ging auf die linke Spur. Der Lkw vor uns ging auch auf die linke Spur.
    «Dann geh rechts vorbei.»
    Ich ging nach rechts. Der Lkw pendelte sich in der Mitte ein, und ich weiß nicht und weiß es bis heute nicht, ob der Typ uns ausbremsen wollte oder einfach nur stulle war. Tschick meinte, ich sollte warten, bis ein anderes Auto käme, und mich dann dranhängen. Aber es kam kein anderes Auto. Die Autobahn war so leer wie noch nie.
    «Soll ich die Standspur nehmen?»
    «Mit Anlauf vielleicht», sagte Tschick. «Wenn du dir das zutraust. Du musst kuppeln.»
    Wir ließen uns zurückfallen, ich trat die Kupplung, und Tschick legte den dritten Gang ein. Das Getriebe heulte auf.
    «Und jetzt voll aufs Gas. Dann geht er ab wie Rakete.»
    Rakete war nicht ganz das richtige Wort. Wanderdüne hätte es genauer getroffen. Wir waren mittlerweile hundertfünfzig oder zweihundert Meter hinter den Lkw zurückgefallen, und mit durchgetretenem Gaspedal brauchten wir eine Minute, um wieder ranzukommen. Dann hatte sich die Tachonadel langsam hochgezittert. Ich

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