Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
Assistenzprofessorin am Fachbereich Wirtschaft der Technischen Universität in Istanbul und eine klassische Vertreterin der modernen türkischen Frauen aus der kemalistischen Tradition der Gesellschaft. Sie hat die offiziellen Beschäftigungszahlen von Frauen untersucht und dabei festgestellt, dass unter den angeblich 26 Prozent arbeitender Frauen rund 10 Prozent sind, die in der Landwirtschaft auf einem Hof der Familie mitarbeiten und dafür gar nicht bezahlt werden. Von den verbleibenden 16 Prozent berufstätiger Frauen sind danach noch ein großer Anteil immer wieder arbeitslos, so dass am Ende vielleicht 10 Prozent der türkischen Frauen in einem festen sozialversicherungspflichtigen Job beschäftigt sind. Dieser dramatische Befund – die EU strebt an, dass mindestens 60 Prozent aller Frauen eines Landes einer bezahlten Beschäftigung nachgehen sollen – geht nach Auffassung der Fraueninitiative nicht nur auf die schwierige Situation am Arbeitsmarkt zurück, sondern ist vor allem Tradition und Mentalität geschuldet.
Das beginnt bei der Schulbildung, wo Mädchen in traditionellen Familien von ihren Eltern oft immer noch weniger unterstützt werden als Jungen. Das Problem setzt sich fort, wenn Männer für gleiche Arbeit mehr verdienen als Frauen und in armen Familien dann natürlich Männer arbeiten gehen statt Frauen. Frau Ilkkaracan erzählt von einer typischen Erfahrung, die sie mit der AKP gemacht hat und die wenig Hoffnung für die Frauenbeschäftigung in der Zukunft gibt. Bei einem UNO -Symposium 2005 präsentierte ein Minister der AKP einen Regierungsbericht, wie man gegen die Diskriminierung von Frauen vorzugehen beabsichtige. Als er jedoch gefragt wurde, wie viel Kindergarten- und Vorschulplätze es in der Türkei gäbe, verstand er gar nicht, was das mit dem Thema zu hätte. Denn natürlich habe jede Frau ihre familiären Verpflichtungen. Gegenüber der UN -Kommission sagte der Minister: »Was haben Kindergartenplätze mit Diskriminierung zu tun? Wir haben nichts dagegen, wenn Frauen arbeiten gehen, aber zuerst müssen sie natürlich ihre Familienpflichten gegenüber den Kindern, ihren Männern und ihren Eltern oder Schwiegereltern erfüllen. Wenn sie dann noch Zeit haben, können sie arbeiten gehen.«
Frauendiskriminierung besteht für die AKP hauptsächlich darin, dass es »ihren« Frauen bislang nicht erlaubt war, mit einem Kopftuch zu studieren oder gar mit Türban als Lehrerin zu unterrichten oder als Staatsanwältin zu arbeiten.
Symbolisiert durch das Kopftuch, steht derzeit in der Türkei tatsächlich die Frage auf dem Prüfstand, ob die einstmals von den Kemalisten durchgesetzte Trennung von Religion und Staat bestehen bleibt, ob der moderne, nichtreligiöse Teil der Gesellschaft stark genug ist, sich den Forderungen, die die Religion angeblich stellt, zu widersetzen. Ganz schlicht formuliert: Wird aus der Freiheit für das Kopftuch über kurz oder lang ein Kopftuchzwang, kommt nach dem Kopftuchverbot dann das Kopftuchgebot? Viele Frauen zweifeln am Bekenntnis der AKP zu Toleranz und gesellschaftlicher Vielfalt. Als es um die Wahl von Abdullah Gül, dem zweiten Mann in der islamischen AKP , zum Präsidenten ging, protestierten Hunderttausende Frauen in verschiedenen Städten gegen die drohende Re-Islamisierung der Gesellschaft. Viele fürchten, dass die unter Atatürk durchgesetzte, weltweit einzigartige Säkularisierung eines mehrheitlich islamischen Landes jetzt wieder rückgängig gemacht werden könnte.
In dieser Auseinandersetzung fühlen sich viele moderne Frauen in der Türkei von ihren Geschlechtsgenossinnen in Europa alleingelassen. Denn rein zahlenmäßig sind sie in der Minderheit. Die größte Sicherheit gegen eine schleichende Islamisierung des Landes, davon sind alle überzeugt, wäre ein Beitritt der Türkei zur EU . Stattdessen wird in Deutschland und im übrigen Westeuropa durch den Diskurs über Ehrenmorde und Frauenunterdrückung eine weitere Annäherung an die EU eher erschwert, jedenfalls wenn das als Beleg für die EU -Untauglichkeit des Landes benutzt wird. Dabei ist das Wissen um die schwierige Situation vieler Frauen bereits ein Erfolg der Annäherung. Das Interesse an der Situation von Frauen ist größer, Ehrenmorde geschehen nicht mehr völlig unbeachtet, weit hinten im Osten der Türkei, sondern werden in den großen Zeitungen thematisiert. In einem Report im September 2007 begrüßt die Frauenhilfsorganisation KAMER aus dem kurdischen Diyarbakir die wachsende
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