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Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Gottschlich
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werden.
    Da die AKP zumindest in ihrer ersten Legislaturperiode an der Macht – von 2002 bis 2007 – glaubhaft die Mitgliedschaft in der EU anstrebte und mehr Freiheit und Demokratie in allen gesellschaftlichen Bereichen versprach, wurde sie von den meisten Liberalen, allesamt durch und durch säkulare Intellektuelle, unterstützt. Selbst viele Frauengruppen waren begeistert, dass die AKP im Zuge der Annäherung an die EU -Gesetzgebung bereit war, das Strafrecht zu reformieren und die Position von Frauen – bei Vergewaltigungsprozessen, beim Strafmaß für Ehrenmorde und selbst beim Straftatbestand Vergewaltigung in der Ehe – erheblich zu verbessern.
    In dreijähriger harter Lobbyarbeit hat eine nationale Plattform, zu der sich eine ganze Reihe von Frauen-Organisationen zusammengeschlossen haben, entscheidend mit dafür gesorgt, dass das im Herbst 2004 verabschiedete neue Strafgesetzbuch der Türkei erstmals die individuellen Rechte der Frau festschreibt und das Anzeigen von sexuellen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen nicht mehr als Störung des Familienfriedens definiert, sondern als Verletzung der individuellen Rechte der Frau geahndet werden. Vor allem in den Jahren von 2003 bis 2006 herrschte in der Türkei eine Aufbruchstimmung, die es denkbar erscheinen ließ, dass die AKP , im Rahmen der Verhandlungen zum EU -Beitritt, auch für die Mädchen und Frauen aus den Vorstädten den Weg zu einem moderneren Leben freimachen könnte – durch bessere Bildungsangebote und eine Zivilgesetzgebung, die die Stellung der Frau beispielsweise im Scheidungsrecht oder bei Erbschaftsfragen deutlich verbessert.
    Erste Irritationen gab es, als die AKP -Führung auf Druck des konservativ-islamischen Flügels plötzlich Ehebruch als neuen Straftatbestand in das Strafgesetzbuch aufnehmen wollte. Massive Proteste aus Brüssel und der liberalen Unterstützer der AKP verhinderten das. Noch in die Zeit des Aufbruchs fielen erste Berichte darüber, dass führende AKP -Politiker in ihrem persönlichen Umgang mit Frauen weit von der progressiven Rhetorik ihrer Parteiführung gegenüber der EU entfernt waren. So wurde bekannt, dass die Frau eines Parteivorstandsmitgliedes zur Polizei gegangen war und ihren Mann wegen häuslicher Gewalt angezeigt hatte. Wichtig war der Grund für die Gewaltausübung gegen die Frau. Der Mann hatte sich eine Zweitfrau zugelegt und seine gesetzliche Frau verprügelt, weil die nicht damit einverstanden war. Der Vorfall brachte dann auch noch ans Licht, dass offenbar die nach islamischem Recht mögliche Mehrehe – in der Türkei seit 80 Jahren verboten – innerhalb der AKP häufiger vorkam.
    Vor allem ein Foto in der größten Tageszeitung »Hürriyet« war es dann, dass die Ängste der modernen Frauen gegenüber der AKP auf den Punkt brachte. Der Fotograf hielt eine Szene in einem Lokal fest, wo ein AKP -Minister auf einer Reise durch die Provinz die örtlichen Honoratioren zu einem Essen empfing. Während die Männer an einer langen Tafel ausgelassen speisten, saß die Frau des Ministers, mit einem Kopftuch verhüllt, einsam an einem »Katzentisch« in der Ecke. Sieht so die Befreiung der Frau vom Joch der kemalistischen Verbote aus, fragte die Zeitung in Anspielung auf die Freiheitsrhetorik der AKP gegen das Kopftuchverbot.
    Wenn in Deutschland über die Misere der türkischen Frauen geredet wird, geht es meistens um häusliche Gewalt, Zwangsehen oder gar Ehrenmorde. Tatsächlich sind die Zahlen über häusliche Gewalt erschreckend – statistisch erlebt jede dritte Frau in der Türkei Gewalt in der Familie –, aber das Hauptproblem der Mehrheit der Frauen ist doch ein anderes. Jenseits der modernen Familien, in denen die Frauen von den kemalistischen Reformen profitiert haben, geht kaum eine Frau arbeiten. So haben wir die merkwürdige Situation, dass in hoch qualifizierten Berufen in Wissenschaft, Kultur und auch in der Wirtschaft im Vergleich zu Deutschland viele Frauen bis hinauf in die Führungsetagen vertreten sind, in der Masse aber die Beschäftigung bei Frauen sehr gering ist. Die Folge davon sind andauernde Abhängigkeit der meisten Frauen von den männlichen Familienmitgliedern und damit die Fortschreibung der patriarchalischen Strukturen.
    Vor der Wahl 2007 hat die Frauenrechtsorganisation »Frauen für Frauenrechte – Neue Wege« eine Initiative gestartet, mit der sie die Berufstätigkeit von Frauen unterstützen will. Eine der Aktivistinnen ist Ipek Ilkkaracan, eine

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