Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber Ehrenmorden. In dem Report mit dem Titel »Wir können es stoppen« berichten sie, dass sich in den letzten vier Jahren insgesamt 158 von ihrer Familie bedrohte Frauen an sie gewandt hätten. Ob diese Zahl auf eine Zunahme von Ehrenmorden hinweist, ist schwer zu sagen, weil vor Gründung von KAMER 2003 niemand die Fälle gezählt hat. In der Polizeistatistik werden sie nicht gesondert aufgeführt (wie übrigens in Deutschland auch nicht), und erst in den letzten Jahren rückten NGO s das Phänomen überhaupt in den Fokus überregionaler Aufmerksamkeit. Unter dem Druck von Frauenorganisationen und der EU hat eben auch die Regierung sich erst in den letzten Jahren zu einer neuen strafrechtlichen Beurteilung von Ehrenmorden durchgerungen. Deshalb wäre es gerade für viele Frauen fatal, wenn der Zwang zur Anpassung an die Werte der EU zukünftig stark abnimmt oder gar ganz entfällt.
Doch gerade Frau Merkel scheint sich für das Schicksal von Frauen in der Türkei nicht besonders zu interessieren. Mit der CDU -Parole von der »privilegierten Partnerschaft« sorgt sie jedenfalls mit dafür, dass der Einfluss der EU in der Türkei schwindet. Die Mehrheit der AKP -Mitglieder ist fest in traditionellen, patriarchalischen Wertvorstellungen verankert. Fehlt die Beitrittsperspektive, gibt es auch für die AKP -Führung keinen Grund mehr, ihre Leute mit den Wertvorstellungen der europäischen Gesellschaften zu konfrontieren.
Für die westlich orientierten, modernen türkischen Frauen bleibt dann nur die Hoffnung, dass sich ein Wertewandel im traditionellen Teil der Gesellschaft mit steigendem Wohlstand irgendwann sozusagen von selbst einstellt. Doch das kann sehr lange dauern, wie die reichen Staaten am Persischen Golf zeigen.
Ehrenmorde
Als am 8 . März 2008 , wie in jedem Jahr in allen Großstädten der Türkei zum internationalen Frauentag, Tausende Frauen für ihre Rechte demonstrierten, fand in Batman eine stille Beerdigung statt. Wenige Leute gaben der 17 Jahre alten Lalihan ihr letztes Geleit. Das Mädchen, deren Geburt nie registriert worden war, die offiziell gar nicht existierte, bekam erst im Tod ein öffentliches Gesicht. Lalihan war zwei Tage zuvor ermordet worden. Ermordet von ihrem Cousin Abdurrahman, der mit dem Mord an seiner Cousine die Ehre seiner wie die der Familie von Lalihan wieder herstellen wollte.
Der Tod von Lalihan war eine dieser Tragödien, wie sie vor allem im armen Südosten der Türkei immer wieder vorkommen. Zwei Bauernfamilien, die beiden männlichen Familienoberhäupter sind Brüder, hatten bereits wenige Jahre nach der Geburt ihrer Kinder beschlossen, dass jeweils ein Sohn der einen Familie die Tochter der anderen Familie heiraten solle. So würde das Land in der Familie bleiben, und es gäbe keine unerwünschten Eindringlinge von außen. Während Lalihans älterer Bruder seine Cousine heiratete, weigerte sich Lalihan, den Sohn ihres Onkels, ihren Cousin Abdurrahman zu heiraten. Es erschien ihr nicht richtig, den Jungen, mit dem sie Seite an Seite wie mit einem Bruder aufgewachsen war, auch noch zu heiraten.
Wie häufig in solchen Familien, gab es für Lalihan niemanden, mit dem sie über ihre Probleme hätte reden können, niemanden, der den absehbaren Konflikt hätte moderieren oder entschärfen können. Erst kurz bevor die Heirat stattfinden sollte, ging Lalihan zu ihrem Vater und sagte ihm, sie könne Abdurrahman nicht heiraten. Der Vater war blamiert, sein Bruder hatte seine Tochter seinem Sohn zur Frau gegeben und nun weigerte sich seine Tochter, den Sohn seines Bruders zu heiraten. Eine weitere Tochter hatte er nicht, es gab für ihn nur einen Ausweg, die Schmach zu tilgen und sein Gesicht zu wahren. Abdurrahman, der verschmähte Ehemann, wurde als Vollstrecker der Tat ausgewählt. Beide Familien sahen zu, wie er Lalihan mit einem Messer ermordete.
Erst als es zu spät war, tauchte der Staat in Form der Gendarmerie auf. Solange Lalihan gelebt hatte, existierte sie für die Behörden gar nicht. Abdurrahman wird für den Mord wahrscheinlich zu lebenslangem Gefängnis verurteilt. Seit das Strafrecht 2004 reformiert worden ist, gibt es für sogenannte Ehrenmorde keine mildernden Umstände mehr. Es ist fraglich, ob Abdurrahman davon wusste. Doch selbst wenn, hätte es ihn wahrscheinlich kaum von der Tat abgehalten. In seinem Lebensumfeld, in seiner Familie und in seinem Dorf wäre er zu einem Aussätzigen geworden, wenn er sich geweigert
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