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Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Gottschlich
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Kulturrevolution von oben.
    Die Gründerväter der Republik rund um Mustafa Kemal wollten die Türkei in die europäische Zivilisation integrieren, sie wollten das Agrarland möglichst schnell industrialisieren und aus dem orientalischen Feudalismus herausführen. Zu diesem Programm gehörte die Befreiung der Frau aus Tradition und religiösen Zwängen. Mit der Abschaffung des Islam als Staatsreligion und der Einführung eines modernen Zivilrechts wurde die Mehrehe verboten, die Frau dem Mann im Grundsatz rechtlich gleichgestellt und der Schleier in der Öffentlichkeit verboten. Doch so wie die Modernisierung insgesamt nur teilweise gelang, so kam die Befreiung der Frau auch nur bei einem Teil der Gesellschaft an. Während sich in den Städten, vor allem in der jungen Hauptstadt Ankara, ein neues kemalistisches Bürgertum herausbildete, das sich dann nach und nach auch in den anderen Großstädten entwickelte, blieb die Provinz überwiegend ihren Traditionen verhaftet.
    Schon damals war der Kemalismus auch ein Projekt gegen die Rückständigkeit der Religion. Obwohl die Kemalisten sich anders als die benachbarten Kommunisten in der Sowjetunion nicht als Atheisten bezeichneten, wollten sie die Religion doch strikt in die Privatsphäre jedes Einzelnen zurückdrängen. Auch deshalb sollte die moderne Frau in der Öffentlichkeit ihr Haar zeigen, seit damals ist das öffentliche Bild der Frau ein Ausdruck dafür, wer in der Gesellschaft das Sagen hat. Daher ist es für den modernen, kemalistischen Teil der Gesellschaft so schwer erträglich, wenn sich nun die First Lady des Landes im Türban, dem islamischen Kopftuch, präsentiert und damit symbolisch deutlich macht, dass die kemalistische, westliche Modernisierung für sie nicht zählt.
    »Die Frau«, sagt die renommierte 65 -jährige Politologin Nur Vergin, »wird sowohl von den Kemalisten wie von den Islamisten für ihre Ziele instrumentalisiert. Die Konflikte werden auf dem Rücken der Frauen ausgetragen, dabei geht es beiden Seiten nur um die Macht.«
    Die absolute kulturelle Hegemonie der Kemalisten, die notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt wurde, hielt sich nur bis in die 1950 er Jahre. Der Aufstieg der islamisch orientierten Parteien begann aber erst Mitte der 1980 er Jahre. Das hatte mit der islamischen Revolution im Iran zu tun, aber auch mit der Schwäche und Unfähigkeit der bürgerlichen Parteien und der alten republikanischen Partei Atatürks.
    Das wichtigste Moment ist aber die Demografie. Die arme, ungebildete, den alten Traditionen verhaftete Bevölkerung auf dem Land wuchs sehr viel schneller als die urbane städtische Bevölkerung. Die kulturelle und soziale Transformation, die normalerweise – so auch in der Türkei bis in die frühen 1980 er Jahre – dazu führt, dass die Landflucht die Leute zu Städtern macht, die sich den kulturellen Normen der Stadt anpassen, fand nicht mehr statt, weil die Einwanderung in die Städte so groß war, dass sich die Mehrheitsverhältnisse umdrehten. Die Bevölkerung Istanbuls wuchs von Mitte der 1960 er Jahre bis zur Jahrtausendwende von 2 auf 10 Millionen. Innerhalb von 30 Jahren kamen zu den 2 Millionen Städtern 8 Millionen Einwanderer vom Land hinzu.
    Die Frauen und Mädchen dieser Einwandererfamilien bleiben in ihren Vorstädten soweit unter sich, dass eine kulturelle Modernisierung nur sehr eingeschränkt stattfindet. An diesem Bevölkerungswachstum scheiterte auch die »Erziehungsoffensive« der Kemalisten. Es gab gar nicht genug Schulen, genug Lehrer und nicht genügend Geld für Bildung, um alle Kinder im Geist der Moderne erziehen zu können. Außerdem erlahmte der Elan der frühen Jahre, als die »Kinder Atatürks« noch mit Begeisterung nach erfolgreicher Ausbildung als Lehrer, Ärzte oder Verwaltungsspezialisten die Fackel der Aufklärung aufs Land tragen wollten und sich freiwillig zum Dienst in der Provinz meldeten.
    Seit die AKP 2002 an die Macht kam, stellt sie nun die Machtfrage im Sinne der Vorstädte. Das Paradoxe ist, dass die AKP eine reaktionäre Forderung, die Bedeckung der Frau, im Namen der Freiheit und der Demokratie vorträgt. Weil der Kemalismus den Fortschritt eben auch immer autoritär von oben und zur Not mit Hilfe des Militärs durchsetzen wollte, kann die AKP nun im Namen der Freiheit fordern, dass Frauen auch mit Kopftuch zur Universität gehen können müssen. Sich ein Kopftuch aufzusetzen kann geradezu als emanzipatorischer Akt gegen den »repressiven Staat« verkauft

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