Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
hätte, Lalihan zu töten.
Eine Studie der Dicle Universität in Diyarbakir kam noch 2008 , also vier Jahre nachdem das neue Strafrecht in Kraft getreten ist und damit auch Anstiftung zum Ehrenmord ahndet, zu dem Ergebnis, dass die Ehrenmorde nicht zuletzt auf Druck der Nachbarschaft im Dorf erfolgten. Eine Studiengruppe um Professor Mazhar Bagli interviewte 170 Männer, die wegen Ehrenmorden im Gefängnis saßen, über Motive und nähere Umstände der Tat. Diejenigen, die sich äußerten, schilderten alle, welchen Druck ihre Umgebung ausgeübt hatte, damit sie ihre »Ehre verteidigten«. Ein Mann, der seine Tochter getötet hatte, sagte im Interview: »Ich habe es getan, nachdem ich feststellen musste, dass meine Nachbarn und Freunde mich nicht mehr grüßten und sich weigerten, mir die Hand zu geben.«
Die gesamte Studie ist erschütternd und zeigt, dass es von einer Änderung der Gesetze bis zu einer Änderung des Bewusstseins noch ein langer Weg ist. 2006 hatte eine vom türkischen Parlament eingesetzte Untersuchungskommission erstmals auf breiter Basis Ehrenmorde untersucht. Sie hat für den Zeitraum von 2000 bis 2005 insgesamt 1091 Fälle versuchter oder begangener Ehrenmorde registriert. Die Mitglieder der Kommission zeigten sich völlig erschüttert über die Abgründe, die sie bei ihren Untersuchungen festgestellt hatten. Die UNO schickte 2006 eine Sonderberichterstatterin in die Türkei, um sich über die Situation zu informieren. Dabei wurde sie darauf aufmerksam gemacht, dass es neben den Ehrenmorden in einigen Städten im Südosten auch eine beunruhigend hohe Rate von Selbstmorden bei jungen Frauen gibt. Möglich Ursache: Um die härteren Strafen zu vermeiden, würden junge Frauen jetzt von ihren Angehörigen in den Selbstmord gedrängt.
Bereits 2003 war ein Psychiater der Dicle Universität auf die hohe Selbstmordraten aufmerksam geworden und hatte begonnen, einzelne Fälle zu untersuchen. Sein Fazit: Die meisten Selbstmorde waren verdeckte Morde. Vor allem in einer Provinzstadt im Südosten, in Batman, rund 50 Kilometer von Diyarbakir entfernt, häuften sich die Selbstmorde. Die Stadt, in der auch Lalihan ermordet wurde, hat es mittlerweile zur traurigen Berühmtheit als »Selbstmord-Stadt« gebracht. Batman ist unter den tristen, völlig verarmten Städten in der kurdischen Region der Türkei die deprimierendste. Sie liegt inmitten einiger kleiner Ölfelder, der einzigen Region der Türkei, wo etwas Öl gefördert wird, ohne selbst davon zu profitieren. Die Bohrtürme und eine Ölraffinerie verschmutzen die gesamte Umgebung, zum Abbau der Arbeitslosigkeit tragen sie jedoch nicht bei. Dazu kommt, dass Batman das kurdische Zentrum des islamischen Fundamentalismus ist. Von hier stammt die Hizbullah, die nichts mit ihren Namensvettern im Libanon zu tun hat, sondern als Organisation einen kurdischen Gottesstaat anstrebt. Die Hizbullah ist extrem gewalttätig – aus ihrem Umfeld stammen die Selbstmordattentäter, die in Istanbul 2003 zwei Synagogen, das britische Konsulat und die HSBC -Bank angegriffen haben und dabei etliche Menschen töteten.
Die UN -Sonderberichterstatterin Yakin Ertürk sagte auf einer Pressekonferenz im Mai 2006 , allein in den ersten vier Monaten des Jahres hätte es 36 Selbstmorde junger Frauen in Batman gegeben. Da es in solchen Fällen sehr schwierig sei, eindeutig nachzuweisen, dass der »Selbstmord« durch die Familie erzwungen worden sei, könne man dagegen nur schwer strafrechtlich vorgehen.
Dass Ehrenmorde in den türkischen Medien in den letzten Jahren immer stärker als gesellschaftlicher Skandal kritisiert werden, ist vor allem diversen Fraueninitiativen zu verdanken, die versuchen, den betroffenen Mädchen zu helfen. Die bekannteste ist KAMER , eine Frauengruppe, die Ende der 1990 er Jahre in Diyarbakir entstanden ist und seitdem sehr erfolgreich etlichen Frauen geholfen hat, die von ihrer Familie bedroht wurden. KAMER hat Zufluchtsorte geschaffen, wo Frauen unterkommen können, sie gehen aber auch in die Familien und versuchen dort, um Verständnis für die betroffenen Frauen zu werben und die Männer von den Mordplänen abzubringen. Wenn das nichts nutzt, schalten sie gegebenenfalls die Polizei ein. Um auf das Problem aufmerksam zu machen, hat KAMER mehrfach Begräbnisse für ermordete Frauen organisiert, die dann zu großen Manifestationen gegen Ehrenmorde wurden.
Obwohl die Initiatorinnen von KAMER immer wieder bedroht und als Verräterinnen beschuldigt wurden,
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