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Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Gottschlich
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weil sie auf den Skandal von Ehrenmorden innerhalb der kurdischen Dörfer der Türkei hinweisen, haben sie mittlerweile in mehreren anderen Städten Büros eröffnet und zu Anlauf- und Beratungsstellen für Frauen gemacht.
    Arbeit, Gesundheit, Rente
    Arbeitsbedingungen wie im Frühkapitalismus
    Der Anblick ist überwältigend. Schon von der Stadtautobahn, die unweit des Marmarameeres aus Istanbul nach Osten hinausführt, sieht man Kran an Kran; dazu riesige Schiffsrümpfe, die die Mauern und Gerüste der Werften überragen. Kilometer um Kilometer zieht sich hier in Tuzla, dem östlichsten Vorort der Stadt, das mit Abstand größte Schiffbauareal der Türkei hin. In den letzten fünf Jahren sind die Schiffstonnagen, die hier zusammengeschweißt werden, von 150000 im Jahr auf eine Million gesteigert worden. Kein Industriezweig in der Türkei hat solche Wachstumsraten, und nirgendwo sonst in türkischen Großbetrieben wird unter derart frühkapitalistischen Bedingungen gearbeitet wie auf den Werften in Tuzla.
    Mit dem Wachstum wuchs parallel die Todesrate unter den Arbeitern, sagt die Gewerkschaft für Schiffbau. Verunglückten 2001 zwei Arbeiter auf einer der Werften, waren es Ende 2007 und Anfang 2008 in nur acht Monaten 18 Männer. Sie starben entweder unter herabstürzenden Stahlplatten oder stürzten aus großer Höhe ab, verbrannten bei Explosionen oder verätzten sich die Lungen durch giftige Ausdünstungen. Die Möglichkeiten, sich zu verletzen, sind so zahlreich, dass man gar nicht weiß, wo man zuerst hinschauen soll, sagte ein Arbeiter der Tageszeitung »Zaman« in einem Interview. »Du weißt nie, aus welcher Richtung der Tod gerade kommt.«
    Die Hauptgründe für die vielen Verletzungen und Todesfälle sind nach Einschätzung der Gewerkschaft die enorme Arbeitshetze und die mangelnde Ausbildung der Beschäftigten. Die Globalisierung der Weltwirtschaft hat die Nachfrage etwa nach Containerschiffen in den letzten zehn Jahren enorm angeheizt. Die Werfteigner, so die Gewerkschaften, sind nur am schnellen Profit interessiert. Sicherheit am Arbeitsplatz ist da kein Thema. Doch die Gewerkschaften machten Druck. Als die tödlichen Unfälle Ende 2007 stark zunahmen, organisierten sie erste kurze Ausstände. Doch die Patrons ignorierten sie. Denn willige Arbeitskräfte gibt es genug. Oft werden Aufträge für bestimmte Bauabschnitte an Subunternehmer vergeben, die dann mit Leiharbeitskräften auf die Werft kommen. Diese Leiharbeiter sind in der Regel nicht aus Istanbul, sondern kommen aus Anatolien, um in Tuzla möglichst schnell möglichst viel zu verdienen und dann wieder zu ihren Familien zurückzukehren. Diese Leute sind nicht ausgebildet, arbeiten sieben Tage am Stück – und das rund zehn Stunden am Tag – für einen Hungerlohn. Sie sind nicht krankenversichert,und sie gehen in keine Gewerkschaft. Sie werden geheuert und gefeuert, je nach Auftragslage. Die Leute kommen und verschwinden wieder, ganz wie sie gebraucht werden.
    Als an einem Tag im Januar 2008 wieder zwei Arbeiter tödlich verunglückten und die Medien sich der Situation der Werftarbeiter verstärkt annahmen, reagierte dann auch endlich die Politik. Das Parlament setzte einen Untersuchungsausschuss ein, und der zuständige Arbeitsminister musste aktiv werden. Das Ganze, so sagt die Gewerkschaft, hatte auch deshalb so lange gedauert, weil zwei der größten Werftbesitzer als Abgeordnete im Parlament sitzen. Einer gehört der regierenden AKP an und ist gleichzeitig Vorsitzender des Verteidigungsausschusses, der andere ist eine führende Figur der rechtsradikalen Oppositionspartei MHP . Beide sorgten offenbar dafür, dass die skandalösen Verhältnisse in der Werftindustrie solange als möglich unter der Decke blieben.
    Hauptursache für diese Verhältnisse aber ist das schnelle Wachstum der Branche. Noch Ende der 1990 er Jahre spielte der Schiffbau in der Türkei kaum eine Rolle. Die Nachfrage war gering, und bald fehlte der Nachwuchs. Dabei ist Istanbul eine der ältesten Schiffbaustädte der Welt. Schon zu byzantinischen Zeiten waren die Werften am Goldenen Horn berühmt. Die Osmanen wetteiferten mit den Werften in Venedig um den größten Ausstoß in Europa. Wer das Mittelmeer beherrschen wollte, musste Schiffe bauen. Bis 1983 blieben die historischen Werften mitten im Zentrum Istanbuls in Betrieb. Dann verlegte erst die Marine ihren Stützpunkt nach Tuzla, und die wenigen kommerziellen Werften, die es noch gab, folgten. Doch das Geschäft

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