Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Gottschlich
Vom Netzwerk:
gar skandinavischen zwar tatsächlich sehr viel patriarchalischer ist und männliches Macho-Gehabe noch weitgehend als normal akzeptiert wird, es aber immerhin auch erstaunliche Gegenbeispiele gibt, die das Bild der allseits unterdrückten Frau in neuen, weit weniger düsteren Farben erscheinen lassen, als es aus der Entfernung gemeinhin wahrgenommen wird: das Wahlrecht für Frauen beispielsweise, in der Türkei schon 1934 , noch vor einigen westeuropäischen Ländern eingeführt, die Zahl der Professorinnen an den Hochschulen, weit höher als in Deutschland, eine Frau als Regierungschefin, Tansu Ciller, bereits 1993 , mehr als zehn Jahre vor Angela Merkel. Man kann diese Aufzählung noch um etliche Posten erweitern: Jahrelang war eine Frau Vorsitzende des Obersten Gerichts, seit Anfang 2007 ist mit Arzuhan Yalcindag gar eine Frau gewählte Chefin des einflussreichsten Unternehmerverbandes TÜSIAD . Das heißt, der Boss der Bosse ist eine Frau, und das in der vermeintlich so testosterongesteuerten türkischen Gesellschaft.
    Doch was heißt das? Ausnahmen bestätigen eben die Regel, wie manche schulterzuckend meinen. Oder aber sind das doch unübersehbare Indizien für eine Entwicklung, die sich der in West- und Nordeuropa langsam, aber sicher annähert. Es heißt paradoxerweise beides. Es gibt keinen anderen Bereich, in dem die türkische Gesellschaft so gespalten ist wie bei den unterschiedlichen Rollen der Frauen. Es gibt den urbanen Teil der Türkei, in dem der Geschlechterkampf sich in ähnlicher Form abspielt wie in Deutschland auch. Grundsätzlich kann Frau alles erreichen, sie hat es aber schwerer als Männer. Hausarbeit und Kinder sind auch in modernen türkischen Familien immer noch eher die Domäne der Frauen, auch wenn sie genauso ihrem Job nachgehen wie der Mann der Familie. Elternauszeit für Männer, Windelnwechseln und Geschirrspülen sind auch für den durchschnittlichen modernen türkischen Mann Tätigkeiten, die einfach nicht in seinen Bereich gehören. Trotzdem ist in diesem Teil der Gesellschaft vieles möglich. So findet es niemand ungewöhnlich, dass die Vorstandsvorsitzende des zweitgrößten Industriekonglomerates, der Sabanci-Holding, eine Frau ist. Güler Sabanci gehört damit zweifellos zu den mächtigsten Menschen der Türkei. Es gibt Gerichtsvorsitzende, Hochschulrektorinnen und bekannte Kolumnistinnen. In Istanbul wurde vor einigen Jahren ein feministischer Buchladen gegründet, im Kunst- und Theaterbereich tummeln sich überdurchschnittlich viele Frauen.
    Für einen ausländischen Korrespondenten spielt sich sein eigenes, privates Leben natürlich fast ausschließlich in diesem Teil der Gesellschaft ab. Freunde und Bekannte gehören zur modernen Mittelschicht und die Geschlechterbeziehungen unterscheiden sich in keiner Weise von denen in Berlin oder Frankfurt. Deshalb kommen einem persönlich die Fragen deutscher Freunde oft völlig exotisch vor. Denn aus der Sicht des westlich orientierten Mittelstandes sind Ehrenmorde, Zwangsheiraten, die gesamte Verfügungsgewalt, die Männer in traditionellen Familien über Frauen haben, genauso weit vom eigenen persönlichen Leben entfernt wie von Berlin aus. Es gibt kaum Berührungspunkte zwischen diesen beiden gesellschaftlichen Sphären, es sei denn, die Putzfrau erzählt von Problemen in ihrer Familie.
    Natürlich gibt es den stark traditionellen Bereich der Gesellschaft. Er ist zahlenmäßig sogar viel größer, und die Menschen leben auch nicht alle weit weg im Osten des Landes, im ländlichen Anatolien und den Provinzkleinstädten, sondern sie leben durchaus nebenan, in den Vorstädten der Metropolen. Mädchen in diesen Familien sind, völlig unabhängig davon, welche Rechte ihnen auf dem Papier per Gesetz zustehen, einer seit Jahrhunderten kaum veränderten patriarchalischen Werteordnung unterworfen, in denen die Gleichberechtigung der Geschlechter keinen Platz hat. Dass die Trennung in der Türkei so scharf ist, hat damit zu tun, dass die Gesellschaft im Zuge der kemalistischen Revolution in den zwei Jahrzehnten nach Gründung der Republik 1924 einen geradezu eruptiven Sprung gemacht hat, den aber nur ein Teil der Menschen mitvollziehen konnte. Die Modernisierung in den 20 er und 30 er Jahren des letzten Jahrhunderts entsprach in der Türkei nicht einer ökonomischen Notwendigkeit, sie war, rein soziologisch betrachtet, nicht von unten gewachsen, sondern – wie schon beschrieben – das Ergebnis einer ideologisch begründeten

Weitere Kostenlose Bücher