Türkisches Gambit
doch für ein Minütchen zu mir«, sagte Warja einschmeichelnd. »Lassen Sie das unglückliche Tier etwas ausruhen. Ich habe hier Kuchen mit Marmelade und eine Kanne Kaffee mit Rum.«
MacLaughlin zog die Uhr am silbernen Kettchen aus der Tasche.
»Half past seven … Another forty minuts to get there … All right, an hour. It’ll be half past eight« 13 , murmelte er in seinem unverständlichen Idiom und seufzte. »Nun gut, ein Minütchen. Ich fahre mit Ihnen bis zur Weggabelung, dort biege ich ab nach Petirnizy.«
Er band die Zügel an die Kutsche und setzte sich neben Warja. Ein Stück Kuchen verschlang er im Ganzen, vom zweiten biß er die Hälfte ab und trank dazu mit Genuß einen Schluck heißen Kaffee.
»Was wollen Sie dort?« fragte Warja lässig. »Treffen Sie wieder Ihren Plewnaer Informanten?«
MacLaughlin sah sie prüfend an und richtete die vom Kaffeedampf beschlagene Brille.
»Geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie es niemandem erzählen, zumindest nicht vor zehn«, verlangte er.
»Ehrenwort«, sagte Warja sogleich. »Was ist das für eine Neuigkeit?«
Die Leichtigkeit, mit der das Versprechen gegeben wurde, ließ den Iren zaudern, er schnaufte, aber zum Rückzug war es zu spät, und er wollte sich wohl auch sehr gern mitteilen.
»Heute, der zehnte Dezember, nach Ihrem Kalender der achtundzwanzigste November 1877, ist ein historischer Tag«, begann er feierlich und wechselte zum Flüstern. »Aber das weiß im ganzen russischen Lager nur ein Mensch – meine Wenigkeit. Oh, MacLaughlin gibt kein Trinkgeld dafür, daß jemand seine Pflicht tut, aber für gute Arbeit bezahlt MacLaughlin gut, das können Sie mir glauben. Schluß, darüber kein Wort mehr!« Mit erhobener Hand wehrte er die Frage ab, die Warja von der Zunge wollte. »Meinen Informanten nenne ich Ihnen nicht. Ich sage nur, daß er mehrmals erprobt wurde und mich nie hereingelegt hat.«
Warja erinnerte sich, daß einer der Journalisten neidisch gesagt hatte, der Korrespondent der »Daily Post« bekomme von einem Bulgaren Informationen über die Vorgänge in Plewna, vielleicht sogar von einem türkischen Offizier. Das hatte kaum jemand geglaubt. Aber vielleicht stimmte es?
»Reden Sie schon, spannen Sie mich nicht auf die Folter.«
»Denken Sie daran, vor zehn zu niemandem ein Wort. Sie haben Ihr Ehrenwort gegeben.«
Warja nickte ungeduldig. Diese Männer mit ihren dämlichen Ritualen! Natürlich würde sie es niemandem sagen.
MacLaughlin beugte sich zu ihrem Ohr.
»Heute abend kapituliert Osman Pascha.«
»Was Sie nicht sagen!« rief Warja.
»Nicht so laut! Punkt zehn werden beim Kommandeur des Grenadierkorps, Generalleutnant Ganezki, dessen Truppen am linken Ufer des Flusses Wid stehen, Parlamentäre erscheinen. Ich werde der einzige Journalist sein, der diesem großen Ereignis beiwohnt. Und ich will, nicht vor halb zehn, den General informieren, damit nicht ein Vorposten das Feuer auf die Parlamentäre eröffnet. Können Sie sich vorstellen, was das für einen Artikel gibt?«
»Und ob.« Warja nickte begeistert. »Und das darf ich keinem erzählen?«
»Wollen Sie mich zugrunderichten?« rief MacLaughlin in Panik. »Sie haben Ihr Wort gegeben!«
»Gut, gut«, beruhigte sie ihn. »Bis zehn werde ich schweigen wie ein Fisch.«
»Da ist die Gabelung. Halt.« Der Ire stieß den Kutscher in den Rücken. »Sie müssen nach rechts, Mademoiselle Warja, und ich nach links. Ich freue mich schon auf den Effekt. Ich sitze beim General, wir trinken Tee, schwatzen über alles mögliche, um halb zehn zücke ich meine Uhr und sage wie beiläufig: ›Übrigens, Iwan Stepanowitsch, in einer halben Stunde kommen Leute von Osman Pascha zu Ihnen.‹ Na?«
MacLaughlin lachte aufgekratzt und schob den Fuß in den Steigbügel.
Gleich darauf konnte Warja ihn nicht mehr sehen, er war hinter dem grauen Schleier des zunehmenden Regens verschwunden.
Das Lager hatte sich in den drei Monaten bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Zelte waren verschwunden, statt dessen standen in gleichmäßigen Reihen Bretterbaracken. Überall gepflasterte Wege, Telegraphenmasten, Hinweisschilder. Es ist gut, wenn ein Ingenieur die Armee befehligt, dachte Warja.
In der Sonderabteilung, die jetzt ganze drei Häuser einnahm, erfuhr Warja, daß Herrn Fandorin ein eigenes Cottage zugewiesen worden sei. Der Diensthabende sprach das neue Wort mit sichtlichem Vergnügen aus und zeigte ihr, wie sie gehen mußte.
Das »Cottage« Nummer 158 war ein Bretterhäuschen mit nur
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