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Türkisches Gambit

Türkisches Gambit

Titel: Türkisches Gambit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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abgeschnitten wurden, kam es in Plewna zu Hunger und Munitionsknappheit. Totleben wird immer öfter ein zweiter Kutusow genannt (der russische Feldmarschall erschöpfte die Kräfte Napoleons 1812 durch endlosen Rückzug – Anm. d. Redaktion). Die Kapitulation Osmans und seines Fünfzigtausend-Mann-Heers wird täglich erwartet.«
     
    An einem scheußlich kalten Tag (grauer Himmel, eisiger Nieselregen, schmatzender Schlamm) kehrte Warja mit einem Mietkutscher ins Militärlager zurück. Einen ganzen Monat hatte sie im Seuchenspital zu Tirnowo gelegen, und sie hätte durchaus sterben können, denn am Typhus starben viele, aber sie überstand die Krankheit. Danach verging sie weitere zwei Monate vor Langeweile, während sie wartete, daß ihre Haare nachwuchsen – sie konnte ja nicht wie eingeschorener Tatare zurückfahren. Die verdammten Haare wuchsen langsam, und sie lagen auch jetzt noch nicht, sondern standen borstig hoch. Das sah gräßlich aus, aber sie war mit ihrer Geduld am Ende – noch eine Woche Untätigkeit, und sie wäre verrückt geworden beim Anblick der buckligen Sträßchen in dem zuwider gewordenen Kaff.
    Einmal hatte sie sich aufgerafft, Petja zu besuchen. Er galt noch immer als Untersuchungshäftling, saß aber nicht mehr in der Hauptwache, sondern ging zum Dienst – die Armee war angewachsen, und es fehlte an Chiffrierern. Er sah sehr verändert aus: hatte sich ein dünnes Bärtchen wachsen lassen, das überhaupt nicht zu ihm paßte, war abgemagert, und jedes zweite Wort bei ihm war Gott oder der Dienst am Volk. Am meisten erschütterte sie, daß ihr Bräutigam sie beim Wiedersehen auf die Stirn küßte. Wirkte sie auf ihn wie eine Tote im Sarg? War sie dermaßen häßlich geworden?
    Die Tirnowoer Chaussee war von Fuhrwerken verstopft, und die Kutsche kam kaum voran, darum befahl Warja als Kennerin dieser Gegend dem Kutscher, in einen Feldweg einzubiegen, der nach Süden führte, und das Lager zu umfahren. Das war zwar weiter, dafür ging es schneller.
    Auf dem leeren Weg trabte das Pferd flotter, und der Regen hatte fast aufgehört. Noch ein, zwei Stündchen, und sie war zu Hause. Warja prustete. Von wegen »zu Hause«! Ein feuchtes Zelt, durch das der Wind pfiff!
    Hinter Lowetsch kamen ihr vereinzelt Reiter entgegen, meist Furiere und geschäftige Ordonnanzen, und dann sah sie den ersten Bekannten.
    Eine schlaksige Gestalt mit Melone und langem Gehrock saß ungeschickt auf einer mißmutigen rötlichen Stute – kein Zweifel, MacLaughlin! Es war ein déjà-vu-Erlebnis: Als sie während des dritten Sturmangriffs auf Plewna ins Militärlagerzurückkehrte, war ihr unterwegs auch der Ire begegnet. Nur war es damals heiß gewesen, und jetzt war es kalt, und sie hatte damals wahrscheinlich besser ausgesehen.
    Es war sehr günstig, daß sie gerade MacLaughlin als ersten traf. Er war ein geradliniger Mensch ohne Hintergedanken, an seiner Reaktion würde sie gleich erkennen, ob sie sich mit diesen Haaren in Gesellschaft zeigen konnte oder lieber gleich umkehrte. Auch würde sie Neuigkeiten erfahren.
    Warja nahm tapfer den Hut ab und entblößte die schmählichen Borsten. Nun würde sie sehen.
    »Mister MacLaughlin!« schrie sie und erhob sich vom Sitz, als die Kutsche mit ihm auf gleicher Höhe war. »Ich bin’s! Wo reiten Sie hin?«
    Der Ire wandte sich um und lüpfte die Melone.
    »Oh, Mademoiselle Warja, ich freue mich sehr, Sie bei guter Gesundheit zu sehen. Hat man Sie aus hygienischen Gründen so kurz geschoren? Sie sind ja nicht wiederzuerkennen.«
    Warja spürte innerlich einen Stich.
    »Was, so schlimm?« fragte sie mit erloschener Stimme.
    »Keineswegs«, beteuerte MacLaughlin eilig. »Aber Sie sehen noch jungenhafter aus als bei unserer ersten Begegnung.«
    »Haben wir den gleichen Weg?« fragte sie. »Dann steigen Sie bei mir ein, wir können ein bißchen plaudern. Ihr Pferd macht keinen besonders guten Eindruck.«
    »Gräßliche Mähre. Meine Bessy hat sich mit einem Dragonerhengst eingelassen und ist trächtig, sieht aus wie eine Tonne. Der Pferdewärter Frolka mag mich nicht, weil ich ihm prinzipiell kein Trinkgeld gebe, und dreht mir solche Gäule an. Wo er die nur herkriegt! Dabei habe ich’s eilig in einer sehr wichtigen geheimen Angelegenheit.«
    MacLaughlin verstummte vielsagend, und es war zu sehen, daß das wichtige Geheimnis aus ihm herausdrängte. Da der Ire sonst immer zurückhaltend war, mußte er in der Tat etwas aus dem Rahmen Fallendes erfahren haben.
    »So setzen Sie sich

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