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Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis

Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis

Titel: Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Roderick & Williams Gordon
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hatten noch einen Bruder. Er war noch ziemlich klein, als er an irgendeinem Fieber starb. Danach ist sie fortgelaufen.« Ein wehmütiger Ausdruck schlich sich in Cals Augen.
    »Ein Bruder«, wiederholte Will.
    Cal schaute ihn an; sein übliches Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. »Sie wollte uns beide hier rausbringen, aber die Styx kamen ihr auf die Spur.«
    »Also hat sie fliehen können?«
    »Ja, aber nur knapp, und deshalb bin ich immer noch hier unten.« Cal biss erneut in die Birne und kaute eine Weile, ehe er fortfuhr: »Onkel Tam sagt, sie ist die Einzige, die fliehen konnte und nicht wieder geschnappt wurde.«
    »Dann lebt sie noch?«
    Cal nickte. »Soweit wir wissen. Aber sie hat das Gesetz gebrochen – und wer das Gesetz bricht, den lassen die Styx nicht mehr in Ruhe, selbst wenn er oder sie es bis Übergrund schafft. Denn damit ist die Sache noch lange nicht erledigt. Eines Tages werden sie dich schnappen und dann werden sie dich bestrafen.«
    »Bestrafen? Wie denn?«
    »In Mutters Fall: Hinrichtung«, sagte Cal kurz und bündig. »Deswegen muss man ja auch so wahnsinnig vorsichtig sein.« In der Ferne begann eine Glocke zu schlagen. Cal stand auf und schaute aus dem Fenster. »Sieben Glasen. Wir sollten uns auf den Weg machen.«
     
    Nachdem sie das Haus verlassen hatten, marschierte Cal so eilig los, dass Will Mühe hatte mitzuhalten – seine neue Hose scheuerte bei jedem Schritt an den Oberschenkeln. Sie waren in einen Strom von Menschen geraten. Die Straßen füllten sich mehr und mehr, und die Leute hasteten in verschiedene Richtungen, als wären sie alle sehr spät dran. Die Menge erinnerte Will an eine aufgescheuchte Schar ledriger Vögel kurz vor dem Abheben. Er folgte Cal durch die Straßen, und nachdem sie mehrfach abgebogen waren, erreichten sie ein schlichtes Gebäude, das wie ein Lagerhaus aussah, und stellten sich dort ans Ende einer Schlange. Vor den schweren Holztüren des Eingangsportals standen zwei Styx in ihrer charakteristischen Haltung – leicht vornübergebeugt, wie rachsüchtige Schuldirektoren, die jeden Moment zuschlagen wollten. Will senkte den Kopf und versuchte, in der Menge unterzutauchen, um den pechschwarzen Augen der Styx auszuweichen. Doch er ahnte, dass sie ihn längst erfasst hatten.
    Der Saal hinter dem Eingangstor entpuppte sich als erstaunlich geräumig, gut halb so groß wie ein Fußballfeld. Der Boden bestand aus massiven Steinplatten, die an manchen Stellen feucht und dunkel glänzten. Die Wände waren grob verputzt und gekalkt. Will sah sich um und entdeckte in allen vier Ecken des Saals erhöhte Bereiche – grob gezimmerte Kanzeln, auf denen jeweils ein Styx stand und die Versammlung raubvogelartig sondierte.
    Etwa in der Mitte des Raums hingen zwei riesige Ölgemälde an den Wänden. Da die große Menschenmenge ihm die Sicht auf das Bild an der rechten Mauer versperrte, drehte er sich nach links, um das andere Gemälde zu betrachten. Im Vordergrund war ein Mann in einem schwarzen Mantel und einer dunkelgrünen Weste abgebildet; über seinem irgendwie trübseligen Gesicht mit dem breiten Backenbart ragte ein Zylinder auf. In den Händen hielt er ein großes Stück Papier, vielleicht einen Bauplan, den er gründlich studierte. Und er schien inmitten irgendwelcher Erdarbeiten zu stehen, umgeben von zahlreichen anderen Männern mit Spitzhacken und Schaufeln, die ihn voller Bewunderung anschauten. Das Gemälde erinnerte Will an Bilder von Jesus mit seinen Jüngern.
    »Wer ist das?«, fragte er Cal und deutete auf das Gemälde, während die Leute an ihnen vorbeidrängten.
    »Natürlich Sir Gabriel Martineau. Es heißt ›Der Ausschachtungsbeginn‹.«
    Da immer mehr Menschen in den Saal strömten, musste Will seinen Kopf ständig hin und her bewegen, um das Gemälde deutlicher sehen zu können. Neben der Hauptfigur, von der Will nun wusste, dass es sich um Martineau handelte, faszinierten ihn vor allem die geisterhaften Gesichter der Arbeiter, die von silberhellen Strahlen – möglicherweise vom Mondlicht – beleuchtet wurden und verklärt schimmerten. Dieser Effekt wurde verstärkt durch ein noch strahlenderes Licht direkt über ihren Köpfen, was so aussah, als hätten viele von ihnen eine Art Heiligenschein.
    »Nein, kein Heiligenschein«, murmelte Will leise, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass es sich dabei nicht um einen Strahlenkranz, sondern um die weißen Haare der Männer handelte. »Und die anderen?«, fragte er Cal. »Wer sind die

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