Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis

anderen Männer?«
    Cal wollte gerade antworten, als ein korpulenter Kolonist ihn rüde anrempelte und fast um die eigene Achse wirbelte. Entschlossen setzte der Mann seinen Weg fort, ohne jedes Wort der Entschuldigung, aber Cal schien über dieses Verhalten nicht im Geringsten verärgert zu sein. Geduldig wartete Will auf eine Antwort, während Cal sich ihm wieder zuwandte.
    »Das sind unsere Vorfahren, Will«, seufzte er in einem Ton, als spräche er mit einem unbelehrbaren Dummkopf.
    »Aha.«
    Obwohl Will wahnsinnig gerne mehr über das Gemälde erfahren hätte, gab er es auf, weitere Fragen zu stellen, denn inzwischen hatte die große Menschenmenge ihm die Sicht fast vollständig versperrt. Stattdessen schaute er nun nach vorne zur Stirnwand des Saals, wo auf etwa zehn kunstvoll geschnitzten Kirchenbänken dicht gedrängt zahlreiche Kolonisten saßen. Will stellte sich auf die Zehenspitzen und entdeckte vor ihnen an der Wand ein imposantes Kruzifix aus massivem Eisen; es schien aus zwei Schienensträngen gefertigt zu sein, die mit riesigen Rundkopfbolzen zusammengenietet waren.
    Cal zog Will am Ärmel, und gemeinsam bahnten sie sich einen Weg weiter nach vorne, in die Nähe der Kirchenbänke. Im nächsten Moment wurden die Türen dröhnend verschlossen. Will erkannte, dass sich der Saal innerhalb kürzester Zeit komplett gefüllt hatte. Er stand eingekeilt zwischen Cal und mehreren beleibten Kolonisten, und die Luft wurde immer stickiger. Durch die vielen Menschen hatte sich der Raum rasch aufgeheizt, gespenstische Dampfschwaden stiegen aus der feuchten Kleidung auf und umgaben die Hängelampen wie mit einem Lichthof.
    Das Stimmengewirr brach abrupt ab, als ein Styx die Kanzel neben dem metallenen Kruzifix erklomm. Er trug eine bodenlange schwarze Robe, und seine glitzernden Augen durchbohrten die dunstige Luft. Einen kurzen Moment schloss er die Lider und senkte den Kopf. Dann schaute er langsam auf und streckte beide Arme aus, wobei sich seine schwarze Robe öffnete und er wie eine Fledermaus kurz vor dem Abflug aussah. Schließlich wandte er sich mit einem zischenden, monotonen Singsang an die Versammlung. Zunächst konnte Will nicht verstehen, was er sagte, obwohl die anderen Styx in den vier Ecken des Saals die Worte des Priesters in einem kratzenden Flüsterton wiederholten – ein Geräusch, das an das Zerreißen von trockenem Pergament erinnerte. Als der Priester seine Stimme erhob, lauschte Will noch angestrengter.
    »Höret dies, Brüder, höret dies«, sagte er und ließ seinen Blick durch die Menge pflügen, während er melodramatisch Luft holte.
    »Die Erdoberfläche wird von Kreaturen heimgesucht, die sich in einem konstanten Kriegszustand miteinander befinden. Auf allen Seiten gehen Millionen von Menschen zugrunde, und die Brutalität ihrer Bosheit kennt keine Grenzen. Ihre Nationen zerfallen und steigen auf, nur um erneut zu zerfallen. Riesige Wälder sind von ihnen niedergestreckt worden, und alle Weidegründe sind von ihrem Gift verseucht.« Um Will herum erhob sich zustimmendes Gemurmel. Der Priester beugte sich vor und umklammerte das Geländer der Kanzel mit bleichen Fingern.
    »Ihre Unersättlichkeit wird nur noch von ihrer Gier nach Tod und Verderben, Angst und Schrecken und der Vernichtung jedes anderen Lebewesens übertroffen. Und ungeachtet ihrer Schandtaten streben sie danach, zum Firmament aufzusteigen. Doch merkt euch: Das übermäßige Gewicht ihrer eigenen Sünden wird sie zu Fall bringen.« Es entstand eine Stille, während der der Priester seine schwarzen Augen über seine Herde wandern ließ. Dann hob er den linken Arm hoch über den Kopf, streckte einen langen, knochigen Zeigefinger in die Luft und fuhr fort:
    »Es gibt nichts, weder in der Erde noch in den großen Meeren, das sie nicht jagen, zerstören oder plündern. Für die in Scharen gemordeten Lebewesen sind diese Schänder sowohl das Grab wie auch das Mittel des Übergangs. Und wenn sie heimgesucht werden …« Er senkte seinen Arm und zeigte durch die diesige Luft unheilverkündend auf einzelne Gemeindemitglieder. »… und merkt euch diese Worte, die Zeit der Heimsuchung wird kommen … dann werden sie hinunter in den Höllenschlund gestoßen und für immer verloren sein … und an diesem Tag werden die Wahrhaftigen, die Gerechten, werden wir, die Anhänger des wahren Glaubens, zurückkehren und die Oberfläche zurückfordern, um erneut zu beginnen, um das Neue Reich zu errichten … das Neue Jerusalem. Denn dies ist