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Twig im Dunkelwald

Twig im Dunkelwald

Titel: Twig im Dunkelwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Stewart
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die geringste seiner Sorgen. Er war vom Weg abgekommen. Jetzt war er verloren.
    Er stolperte oft und manchmal fiel er hin. Seine Haare waren schweißnass, zugleich fror er jämmerlich. Er wusste nicht, wohin er lief, er wusste nicht, wo er war, er hoffte nur, dass er nicht immer im Kreis ging. Er war müde, aber jedes Mal, wenn er sich ausruhen wollte, schreckte ihn ein Knurren, Fauchen oder wildes Brüllen wieder auf und er ging weiter.
    Irgendwann konnte er nicht mehr. Er blieb stehen, sank auf die Knie und hob den Kopf zum Himmel.
    »Ach, Schleimschmeichler!«, rief er verzweifelt. »Schleimschmeichler!« Laut drang seine Stimme durch die kalte Nacht. »Bitte, bitte, bitte«, rief er. »Lass mich den Weg wieder finden. Hätte ich ihn bloß nicht verlassen! Hilfe! Hilfe! Hilfe …«
    »HILFE!«
    Der Schrei schnitt durch die Nacht wie ein Messer. Twig sprang auf und sah sich um.
    »HILFE!« Es war kein Echo.
    Die Stimme kam von links. Instinktiv rannte er los um nachzusehen. Vielleicht konnte er helfen. Doch dann blieb er wieder stehen. Wenn es eine Falle war? Ihm fielen Tantums schreckliche Geschichten ein. Waldtrolle waren von falschen Hilferufen des Schlitzdolchs, eines grässlichen Ungeheuers mit vierzig messerscharfen Klauen, in den Tod gelockt worden. Der Schlitzdolch sah aus wie ein umgefallener Baumstamm – bis man auf ihn drauftrat. Dann schnappten seine Klauen zu und blieben geschlossen, bis die Leiche des Opfers zu verwesen begann. Der Schlitzdolch fraß nämlich nur Aas.
    »Himmel noch mal, so hilf mir doch jemand«, rief die Stimme wieder, diesmal allerdings schon schwächer.
    Twig musste dem verzweifelten Ruf einfach folgen. Er zog sein Messer – nur für den Fall – und ging in die Richtung der Stimme. Schon nach zwanzig Schritten stolperte er über etwas, das unten aus einem summenden Kammbusch herausragte.
    »Au!«, schrie die Stimme.
    Twig fuhr herum. Er war über ein Paar Beine gestolpert. Ihr Besitzer setzte sich auf und funkelte ihn böse an.
    »Du Hornochse!«, schimpfte er.
    »Tut mir Leid, ich …«, begann Twig.
    »Und starr mich nicht so an«, unterbrach der andere ihn. »Das ist nicht höflich.«
    »Tut mir Leid, ich …«, sagte Twig noch einmal. Es stimmte, er starrte den anderen an. Das Mondlicht schien auf einen Jungen und der Anblick seines krebsroten Gesichts, seiner mit Wachs zu flammendroten Spitzen versteiften Haare und seiner Halsketten aus Tierzähnen hatte Twig erschreckt. »Du bist ein Schlächter, ja?«, fragte er.
    Die blutigen Schlächter sahen wild aus und klangen auch so, wenn sie redeten. Es hieß, die vielen Generationen vergossenen Bluts seien ihnen durch die Poren in die Haare gesickert. Dabei waren sie, obwohl sie Tilder jagten und Hammelhörner schlachteten, ein friedliebendes Volk.
    Trotzdem konnte Twig seinen Ekel nicht verbergen. Von gelegentlichen Durchreisenden abgesehen, waren die Schlächter die nächsten Nachbarn der Waldtrolle. Die Waldtrolle handelten mit ihnen – Holzschnitzereien und geflochtene Körbe gegen Fleisch und Lederwaren. Trotzdem verachteten sie sie wie alle anderen Bewohner des Dunkelwalds. Sie waren, um mit Speldas Worten zu sprechen, der unterste Bodensatz. Niemand wollte mit Leuten verkehren, denen Blut nicht nur an den Händen, sondern am ganzen Körper klebte.

    »Also?«, sagte Twig. »Bist du ein Schlächter?«
    »Und wenn schon«, entgegnete der Junge trotzig.
    »Nichts. Ich …« Wer sich im Dunkelwald verirrt hatte, durfte, was seine Gefährten betraf, nicht wählerisch sein. »Ich heiße Twig.«
    Der Junge tippte mit der Hand an seine Stirn und nickte. »Und ich heiße Knorpel«, sagte er. »Bring mich bitte in mein Dorf zurück. Ich kann nicht mehr gehen. Schau.« Er zeigte auf seinen rechten Fuß.
    An der Ferse sah Twig sechs oder sieben tiefrote Punkte. Der ganze Fuß war bereits auf das Doppelte seines gewöhnlichen Umfangs angeschwollen. Noch während Twig hinsah, begann auch das Bein anzuschwellen.
    »Was ist denn passiert?«, fragte er verdattert.
    »Ein … Ein Sch …«
    Twig merkte, dass der Junge auf etwas hinter ihm starrte. Er hörte ein Zischen und fuhr herum. Vor ihm schwebte dicht über dem Boden die abscheulichste Kreatur, die er je gesehen hatte.
    Sie war lang und dick und hatte eine schleimgrüne Haut, die im milchigen Mondlicht feucht glänzte. Überall entlang des Körpers waren gelbe Warzen, aus denen eine durchsichtige Flüssigkeit tropfte. Das Geschöpf ringelte und wand sich in einem fort und starrte

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