Twig im Dunkelwald
– oder dort, wo die Taille gewesen war –, aber es war unmöglich. Es war, als wollte man einen mit Wasser gefüllten Sack festhalten, nur mit dem Unterschied, dass dieser nach oben fallen wollte. Wenn er losließ, würde Knorpel himmelwärts verschwinden.
Twig wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann klemmte er den aufgeblasenen Jungen zwischen zwei Ästen fest, nicht ohne sich vorher zu vergewissern, dass der Baum keine Dornen hatte. Schließlich wollte er nicht, dass Knorpel platzte. Er nahm das Seil, das Spelda ihm mitgegeben hatte, von der Schulter und band das eine Ende um Knorpels Bein und das andere sich selbst um die Hüften. Dann ging er weiter.
Schon bald tauchte ein neues Problem auf. Der Zug nach oben wurde mit jedem Schritt stärker. Twig musste aufpassen, dass er nicht selbst vom Boden abhob. Er hielt sich an den Ästen und Büschen, an denen er vorbeikam, wie an einem Anker fest. Doch es hatte keinen Zweck. Der Auftrieb des Schlächterjungen war einfach zu groß. Mit einem Ruck wurden Twigs Beine vom Boden gerissen. Er musste die Äste loslassen und schwebte gemeinsam mit Knorpel nach oben.
Immer höher stiegen sie in die kalte Nacht und zum weiten Himmel auf. Vergeblich zerrte Twig an dem Knoten der Schnur um seine Hüften. Der Knoten wollte nicht aufgehen. Twig sah zum Boden hinunter, der sich rasch unter ihm entfernte, und dabei kam ihm ein Gedanke – ein ganz schrecklicher Gedanke.
Knorpel würde vermisst werden. Wenn Knorpel nicht zurückkehrte, würden seine Angehörigen und Freunde losziehen um ihn zu suchen. Twig dagegen hatte etwas getan, was Waldtrollen streng verboten war. Er hatte den Weg verlassen. Ihn würde niemand suchen.
KAPITEL 3
Die Schlächter
I mmer weiter stieg Twig in die kalte Nachtluft auf und das Seil drückte schmerzhaft von unten gegen seine Rippen. Er schnappte nach Luft und dabei stieg ihm auf einmal ein seltsam beißender Rauch in die Nase, eine Mischung aus brennendem Holz, Leder und einem stechenden Geruch, den er nicht einordnen konnte. Knorpel über ihm schnaubte aufgeregt.
»Sind wir schon in der Nähe deines Dorfes?«, fragte Twig. Knorpel schnaubte wieder, diesmal noch aufgeregter. Durch die Blätter sah Twig plötzlich Flammen und blutroten Rauch. »Hilfe!«, brüllte Twig. »HELFT UNS!« Schlagartig wimmelte es am Boden unter ihnen von blutroten Schlächtern, alle mit brennenden Fackeln in den Händen.
»HIER OBEN!«, kreischte Twig.
Die Schlächter hoben die Köpfe und einer von ihnen zeigte in ihre Richtung. Wortlos traten sie in Aktion. Ruhig nahmen sie die Seile ab, die ihnen um die Schultern hingen, und verknoteten die Enden zu Schlingen. Dann holten sie mit derselben Ruhe und Besonnenheit aus, doch sie warfen nicht hoch genug und die Seile fielen wieder zu Boden. Twig stöhnte. Er spreizte die Beine und drehte die Füße wie Haken nach außen. Die Schlächter versuchten es wieder, doch Knorpel zog Twig unaufhaltsam weiter in die Höhe und die Rettungsaktion wurde mit jedem Augenblick schwieriger.
»Los, macht schon«, flüsterte Twig ungeduldig, während die Schlächter immer wieder versuchten eins seiner Beine mit dem Lasso einzufangen. Über sich hörte er das erstickte Schnauben Knorpels, dessen aufgeblasener Körper durch die obersten Äste brach. Im nächsten Augenblick tauchte er selbst mit dem Kopf in das dichte, grüne Laub ein. Die Blätter, die er streifte, rochen intensiv nach Erde. Wie es da oben wohl aussieht, überlegte er unwillkürlich. Über dem Dunkelwald, im Reich der Himmelspiraten?
Doch bevor er die Gelegenheit bekam es herauszufinden, spürte er, wie etwas auf seinem auswärts gedrehten Fuß landete und sich um den Knöchel festzog. Einer der Schlächter hatte mit seinem Lasso endlich getroffen. Er spürte einen heftigen Ruck an seinem Bein, dann noch einen und noch einen. Wieder klatschten ihm die Blätter ins Gesicht und der erdige Geruch wurde stärker.
Dann sah er plötzlich tief unter sich den Boden und seinen Fuß mit dem Seil um den Knöchel. An die zwanzig Schlächter hielten das andere Ende fest. Langsam, ruckweise holten sie das Seil ein.
Dann berührten Twigs Füße endlich Grund und sofort wandten sich die Schlächter Knorpel zu. Immer noch sagte keiner ein Wort. Sie schlangen ihm Seile um Arme und Beine und hielten ihn damit unten. Dann zog einer von ihnen sein Messer heraus und schnitt das Seil durch, das immer noch um Twigs Brust geknotet war. Twig war frei. Nach vorn gebeugt, stand er da
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