Twig im Dunkelwald
und atmete tief und dankbar ein.
»Danke«, keuchte er. »Viel länger hätte ich es glaube ich nicht ausgehalten. Ich …« Er sah auf. Die Schlächter hatten den Rückmarsch zum Dorf angetreten. Knorpels gewaltigen Körper zogen sie über sich her. Twig hatten sie einfach stehen lassen. Zu allem Übel begann es auch noch zu schneien.
»Vielen Dank auch«, rief er ihnen wütend nach.
»Sie haben Angst um ihn, deshalb«, sagte eine Stimme hinter ihm. Er sah sich um. Hinter ihm stand ein Schlächtermädchen. Das flackernde Licht ihrer Fackel spielte auf ihrem Gesicht. Sie tippte mit der Hand an ihre Stirn und lächelte. Twig lächelte zurück.
»Ich heiße Vene«, sagte sie. »Knorpel ist mein Bruder. Er war drei Nächte lang vermisst.«
»Glaubst du, er überlebt?«, fragte Twig.
»Wenn sie ihm das Gegenmittel einflößen, bevor er explodiert«, sagte sie.
»Explodiert!«, rief Twig. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie weiter aufgestiegen wären.
Vene nickte. »Das Gift verwandelt sich in heiße Luft. Und man kann nur eine begrenzte Menge heißer Luft aufnehmen.« Hinter ihr wurde ein Gong geschlagen. »Komm«, sagte sie. »Du siehst hungrig aus. Gleich gibt es Mitternachtsessen.«
»Mitternachtsessen?«, rief Twig. »Ihr esst mitten in der Nacht?«
»Natürlich«, sagte Vene verwirrt. »Wahrscheinlich esst ihr am helllichten Tag.« Sie lachte.
»Stimmt«, sagte Twig. »Das tun wir.«
Vene schüttelte den Kopf. »Ihr seid seltsame Leute!«
»Mitternachtsessen.« Kichernd folgte Twig ihr durch die Bäume.
Der Wald lichtete sich und vor ihnen tauchte das Dorf auf. Twig blieb stehen. Es sah ganz anders aus als sein Dorf. Die Schlächter lebten in niedrigen Hütten statt in Baumhäusern. Während die Hütten der Waldtrolle des größeren Auftriebs wegen mit Luftholz gedeckt waren, erbauten die Schlächter ihre Hütten aus massivem Bleiholz, das die Hütten fest an den Boden drückte. Türen hatten sie keine, stattdessen dicke Vorhänge aus Hammelhornfell, die den Wind abhielten. Die Nachbarn hatten offenbar freien Zugang.
Vene führte Twig zu dem Feuer, das er schon von oben durch die Äste gesichtet hatte. Es war groß und warm und brannte auf einer runden steinernen Platte genau in der Mitte des Dorfes. Twig sah sich erstaunt um. Außerhalb des Dorfes schneite es stärker denn je, im Dorf selbst jedoch fiel keine einzige Flocke. So groß war die Hitze des gewaltigen Feuers, dass der Schnee schmolz und verdampfte, bevor er den Boden erreichte.
Vier lange Tische, einfache, auf Böcken liegende Bretter, waren gedeckt und standen im Viereck um das Feuer. »Setz dich irgendwo hin«, sagte Vene. Sie ließ sich auf eine Bank fallen.
Twig setzte sich neben sie und starrte in die lodernden Flammen. Obwohl das Feuer lebhaft brannte, lagen die dicken Holzscheite bewegungslos auf den Steinen.
»Woran denkst du?«, hörte er Vene sagen.
Er seufzte. »Dort, wo ich herkomme«, sagte er, »benutzen wir zum Feuermachen ganz leichtes Holz, Luftholz oder Wiegenliedholz. Es brennt gut, aber man braucht dafür einen Ofen. Ich … habe noch nie ein so großes Feuer im Freien gesehen.«
Vene sah ihn besorgt an. »Möchtest du lieber reingehen?«
»Nein!«, sagte er. »Das wollte ich damit nicht sagen. Es ist schön hier draußen. Zu Hause – na ja, da, wo ich aufgewachsen bin – gehen alle nach drinnen, wenn es kalt wird. Bei schlechtem Wetter ist man manchmal ziemlich allein.« Er sagte nicht, dass er auch sonst immer ziemlich allein war. Inzwischen waren alle Bänke besetzt und am anderen Ende wurde bereits der erste Gang aufgetragen. Ein köstlicher Duft wehte herüber und Twig merkte auf einmal, was für einen Mordshunger er hatte.
»Der Geruch kommt mir bekannt vor«, sagte er. »Was ist das?«
»Tilderwürstchensuppe, glaube ich«, sagte Vene.
Twig lächelte in sich hinein. Natürlich. Erwachsene Waldtrolle bekamen diese Delikatesse in der großen Trollnacht zu essen. Jedes Jahr hatte er aufs Neue überlegt, wie sie wohl schmeckte. Jetzt würde er es bald wissen.
»Nimm deinen Ellbogen aus dem Weg, Schatz«, ertönte eine Stimme hinter ihm. Twig sah sich um. Hinter ihm stand eine alte Frau mit einer Kelle in der rechten Hand und einem runden Topf in der linken. Als sie Twig sah, fuhr sie zurück, ihr Lächeln verschwand und sie tat einen kleinen Schrei. »Ein Gespenst«, ächzte sie.
»Ist ja gut, Oma-Tatum«, sagte Vene neben Twig. »Das ist Twig, er kommt von draußen. Ihm verdanken wir, dass
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