Twig im Dunkelwald
Hammelhornweste, die ihm vor kurzem noch das Leben gerettet hatte, wurde ihm jetzt zum Verhängnis. Das dicke Fell hatte die klebrige Flüssigkeit aufgesaugt und war ganz schwer geworden. Twig sank immer tiefer mit weit aufgerissenen Augen hinunter in den zähflüssigen rosafarbenen Brei. Er wollte an die Oberfläche zurückschwimmen, doch seine Arme und Beine fühlten sich an, als seien sie aus Blei. Er war am Ende seiner Kräfte angelangt.
Ertrunken in rosa Honig, dachte er unglücklich.
Und als ob das noch nicht schlimm genug gewesen wäre, merkte er jetzt, dass er nicht allein war. Noch etwas anderes bewegte sich in der Honigmasse. Ein langes, schlangenähnliches Geschöpf mit einem unförmigen Kopf schoss durch die rosafarbene Flüssigkeit auf ihn zu. Sein Puls dröhnte ihm in den Ohren. Ertrunken oder gefressen, schöne Alternative! Er wand und drehte sich und strampelte mit den Beinen.
Doch das Tier war schneller als er. Es schlang sich um ihn, die weit aufgerissenen Kiefer schnappten von unten hoch und – schluckten ihn mit Haut und Haar.
Höher und immer höher stieg er durch den rosafarbenen Sirup und … tauchte auf. Er hustete und spuckte und sog die Luft in tiefen Zügen ein. Er wischte sich den Honig aus den Augen und sah zum ersten Mal, was das lange Geschöpf mit dem dicken Kopf in Wirklichkeit war: ein Seil mit einem Eimer.
Vorbei ging es an den steilen Wänden der Grube und an den dürren Spindelkäfern, die immer noch eifrig damit beschäftigt waren, die letzten Tropfen rosafarbenen Honigs aus den inzwischen geschrumpften Säcken der Milchtrampel zu drücken.
Der Eimer schwang gefährlich hin und her und Twig hielt sich am Seil fest. Nun befand er sich im oberen Teil der gewaltigen Höhle und musste immer wieder hinuntersehen, obwohl ihm dabei schwindlig wurde.
Tief unter sich sah er einen Flickenteppich aus lauter rosafarbenen und braunen Feldern. In der schimmernden Decke über ihm war ein schwarzes Loch. Es kam immer näher und …
Es wurde dunkel und dann wieder hell und Twig sah, dass er wieder in der von heißem Dampf erfüllten Küche war. Unmittelbar vor ihm erblickte er das fette, schwabbelnde Gesicht der Grobmutter.
»O nein«, stöhnte er.
Grobmutter band das Ende des Seils fest. Schweißperlen strömten ihr über die wulstige Stirn und die feisten Backen. Ihr Körper wabbelte und schwabbelte bei jeder Bewegung hin und her wie eine mit Öl gefüllte Tüte. Sie machte den Eimer vom Haken los und Twig duckte sich und betete, dass sie seinen aus dem Honig herausstehenden Kopf nicht bemerken möge.
Eintönig vor sich hin summend, schleppte Grobmutter den vollen Eimer zum Herd. Sie zitterte vor Anstrengung, als sie den Eimer auf die Schulter hievte und den Inhalt in einen Topf kippte. Mit einem dumpfen Glucksen fiel Twig in den brodelnden Brei.
»Igitt!«, rief er angeekelt, doch wurde sein Schrei vom Prusten und Keuchen der Grobmutter übertönt, die zum Brunnen zurückkehrte um noch mehr Honig zu holen. »Was soll denn das?«
Der Honig war heiß – so heiß, dass die klare Flüssigkeit aus dem Eimer sich sofort milchig verfärbte. Um Twig gurgelte, blubberte und spritzte es. Er musste schnell hier raus, bevor er bei lebendigem Leibe gekocht wurde. Er zog sich also aus dem dicker werdenden, dampfenden Sud am Topfrand hoch und sprang von dort platschend auf den Herd.
Und jetzt? Zum Fußboden war es zu weit. Er konnte es nicht riskieren hinunterzuspringen und die Grobmutter kehrte auch schon mit einem weiteren Eimer Honig vom Brunnen zurück. Twig rannte hinter den Topf, duckte sich und hoffte, dass sie ihn nicht sah.
Mit aufgeregt klopfendem Herzen hörte Twig zu, wie Grobmutter summte, rührte und den kochenden rosa Honig kostete. »Hmmm«, murmelte sie und schmatzte geräuschvoll mit den Lippen. »Schmeckt ein bisschen komisch. Irgendwie sauer …« Sie kostete noch einmal und rülpste. »Ach was, der Honig ist in Ordnung.«
Sie watschelte wieder weg um einige Geschirrtücher zu holen, die auf dem Tisch lagen. Twig sah sich verzweifelt um. Der Honig war fertig. Gleich würde sie ihn in den Schlauch schütten, durch den die Kobolde ihre Nahrung erhielten. Dann würde sie ihn bestimmt entdecken!
Doch er hatte Glück. Als Grobmutter die Handtücher um den ersten heißen Topf wickelte und ihn vom Herd hievte, konnte er sich hinter dem zweiten verstecken. Als sie den leeren Topf zurückstellte und nach dem zweiten griff, versteckte er sich wieder hinter dem ersten.
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