Twin Souls - Die Verbotene: Band 1
war, in unserem Zimmer herumwandern ließ, wo ich die kalten Fensterscheiben berührte und meine eigenen Tränen weinte.
‹Es tut mir leid›, flüsterte sie bei diesen Gelegenheiten. Und ich wusste, dass es ihr tatsächlich leidtat, egal, was sie mir zuvor entgegengeschleudert hatte. Aber das änderte nichts.
Ich war starr vor Angst. Ich war elf Jahre alt. Und auch wenn man mir mein ganzes kurzes Leben lang gesagt hatte, für die rezessive Seele sei es nur natürlich, allmählich zu verschwinden, wollte ich nicht gehen. Ich wollte zwanzigtausend weitere Sonnenaufgänge, dreitausend weitere heiße Sommertage am Pool. Ich wollte erleben, wie es war, den ersten Kuss zu bekommen. Die anderen Rezessiven hatten Glück, dass sie mit vier oder fünf verschwunden waren. Sie waren in einen Kokon der Ahnungslosigkeit gehüllt gewesen.
Vielleicht geschah alles, was passierte, letztendlich aus diesem Grund. Ich sehnte mich zu sehr danach, zu leben. Ich weigerte mich, loszulassen. Ich verschwand nicht gänzlich.
Meine motorischen Fähigkeiten verkümmerten, ja, aber ich war noch da, gefangen in unserem Kopf. Ich beobachtete, hörte zu und war gleichzeitig vollkommen gelähmt.
Niemand außer Addie und mir wusste davon, und Addie hatte nicht vor, es jemandem zu verraten. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir, was Kinder erwartete, die keinen Frieden fanden, die zu Hybriden wurden. Unser Kopf war voller Bilder der Institutionen, in die sie gesperrt wurden – um niemals wiederzukehren.
Schließlich attestierten die Ärzte uns völlige Gesundheit. Die Vertrauenslehrerin verabschiedete sich mit einem zufriedenen kleinen Lächeln von uns. Unsere Eltern waren überglücklich. Sie packten alle Siebensachen und zogen mit uns vier Stunden weit weg, in einen anderen Bundesstaat, eine neue Nachbarschaft. Eine, wo niemand uns kannte. Wo wir mehr als nur Die Familie mit dem komischen kleinen Mädchen sein konnten.
Ich erinnere mich daran, wie ich unser neues Zuhause zum ersten Mal sah. Ich guckte über den Kopf unseres kleinen Bruders hinweg durch das Autofenster auf seiner Seite, und da war das winzige eierschalenfarbene Haus mit einem Dach aus dunklen Schindeln. Lyle heulte los, als sein Blick darauf fiel, weil es so alt und schäbig war, der Garten von Unkraut überwuchert. Während unsere Eltern sich bemühten, dem Chaos Herr zu werden, das aus Lyle beruhigen, den Umzugswagen ausladen und Gepäck nach drinnen schaffen bestand, blieben Addie und ich einen Moment uns selbst überlassen. Wir standen einfach in der Winterkälte da und sogen die beißende Luft in unsere Lunge.
Nach so vielen Jahren war alles endlich, wie es sein sollte. Unsere Eltern konnten anderen Menschen wieder in die Augen sehen. Lyle durfte in der Öffentlichkeit wieder mit Addie zusammen sein. Wir kamen in eine siebte Klasse, in der niemand ahnte, wie viele Jahre wir uns auf unserem Platz so klein wie möglich gemacht und uns verzweifelt gewünscht hatten, unsichtbar zu sein.
Sie konnten eine normale Familie sein, mit ganz normalen Sorgen. Sie konnten glücklich sein.
Sie.
Ihnen war nicht klar, dass es überhaupt kein Sie gab. Es war immer noch ein Wir.
Ich war immer noch da.
»Addie und Eva, Eva und Addie«, hatte Mom stets gesungen, als wir noch klein gewesen waren. Sie hob uns hoch und schwang uns durch die Luft. »Meine kleinen Mädchen.«
Wenn wir jetzt halfen, Abendbrot zu machen, fragte Dad bloß: »Addie, worauf hast du heute Lust?«
Niemand benutzte mehr meinen Namen. Es hieß nicht mehr Addie und Eva, Eva und Addie. Es hieß nur noch Addie, Addie, Addie.
Ein kleines Mädchen, nicht zwei.
Kapitel 1
Das Läuten zum Ende der letzten Stunde fegte alle von den Stühlen. Um uns herum wurden Krawatten gelockert, Schulbücher zugeschlagen und Notizblöcke und Stifte in die Taschen gestopft. Die Worte der Lehrerin gingen in dem Tumult fast unter, als sie uns lautstark daran erinnerte, den Ausflug am darauffolgenden Tag nicht zu vergessen. Addie war schon fast aus der Tür, als ich sagte: ‹Warte, wir müssen Ms Stimp noch nach der Zusatzklausur fragen, mit der wir unsere Note verbessern können, erinnerst du dich?›
‹Mach ich morgen›, sagte Addie, während sie sich einen Weg durch die Schülermassen auf dem Gang bahnte. Unsere Geschichtslehrerin warf uns andauernd Blicke zu, als wüsste sie um das Geheimnis in unserem Kopf; sie presste die Lippen aufeinander und sah uns mit gerunzelter Stirn an, wenn sie dachte, wir bekämen es nicht mit. Vielleicht
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