Über Alle Grenzen
beschloss ich, dass die “Freudvollen und Furchtlosen”, wie ich berechtigterweise meine Schüler zunehmend nenne, noch eine hautnahe Prüfung zu bestehen hatten. Sie sollten jetzt mehr über die Lebensbedingungen in großen Teilen der Welt lernen. Eine erstklassige Möglichkeit dazu bot eine Fahrt in die Stadt Kalimpong, für die wir keine Erlaubnis hatten, und weiter über Darjeeling ins indische Tiefland. Der Aufstand der Gurkhas für ihre Völkerrechte lief schon damals auf vollen Touren. Täglich wurden bis zu einem Dutzend Häuser abgebrannt und zwei bis drei Mann auf beiden Seiten getötet. Die indischen Soldaten erlitten ihre Hauptverluste beim Entfernen der Bäume, die die Nepalesen über die Straße fällten. Sie wurden von Heckenschützen getroffen. Die Einheimischen starben meistens, wenn die Polizei in die tobenden Mengen schoss.
Dass sich die Gurkhas beschwerten, war verständlich. Sie waren immer der unterste Mann auf dem Totempfahl und pflückten den Tee, den andere tranken. Es war aber auch nicht leicht, dafür eine Lösung zu finden. Die Erklärungen der Verantwortlichen hörten sich wie fast überall auf der Welt an, wo Rassen sich begegnen. Völker, die früher ihren Fähigkeiten gemäß Kulturen entwickelten, in denen sie sich geborgen fühlten, wollten jetzt unter der Berieselung von Reklame und Fernsehen alle dasselbe wie der weiße Mann. Es hieß: Wenn der Staat eine Höhere Schule in ihrem Gebiet im Himalaya aufbaute, waren zuerst achtzig Prozent Nepalesen und nur zwanzig Prozent Bengalen eingeschrieben - übrigens mit die klügsten Inder. Drei Jahre später aber war das Verhältnis umgekehrt, und wenn man nach einigen weiteren Jahren überhaupt noch Gurkhas auf der Schule sah, hielten sie sicher Besen in den Händen. Dann klagten sie wieder, die Regierung startete an einem anderen Ort eine nepalesische Hochschule, und alles fing von vorne an.
Darjeeling
Darjeeling war eine Stadt im Belagerungszustand, das wurde Hannah und Niels deutlich, als sie den Polizeichef besuchten. Während sie mit ihm über die Weiterfahrt der Gruppe sprachen, kamen die kommunistischen Gurkhas vom Süden, und die nationalistischen Gurkhas strömten von den Hügeln in der Nähe herunter. “Shoot to kill” war der ständige Befehl des Polizeichefs, wenn die Feldtelefone über ihren Vormarsch Auskunft gaben.
Wir genossen zwei sonnige Tage auf der Dachterrasse des Bellevue-Hotels, oberhalb des ganzen Durcheinanders. Ich arbeitete wie immer an meinen Manuskripten, und die Freunde machten sich mit den Bergen von Nepal, Sikkim und Bhutan vertraut, die im Spätherbst von dort aus so klar zu sehen sind.
Leider konnten wir nicht zum “Fest” bleiben. Wir mussten in zwei Tagen Kathmandu erreichen, sonst würden unsere Tickets nach Europa verfallen. Die Gurkhas hatten ein Fahrverbot auf allen Straßen angeordnet, und da seit Tagen keine Busse mehr fuhren, mussten wir auf eine Evakuierung bestehen. Es wurde ein Riesenzirkus, der alles übertraf, was wir bisher an indischer Planung erlebt hatten. Der vom Militär beschlagnahmte Bus für Ausländer füllte sich plötzlich mit den laut schreienden Familien der lokalen Gesellschaftsspitzen. Sich in den mit Eisenstangen abgesicherten vorderen Teil pressend, erwarteten sie offensichtlich, dass wir sie durch unsere Nähe schützten. Nach unserem stilvollen Einstieg drückten sich noch siebzehn Soldaten in den kleinen 30-Sitzer hinein. Da mehrere Busse während der letzten Woche angezündet worden waren, bat ich ein paar unserer starken Männer, oben auf dem Gepäckträger mitzufahren. Mit Pleueln, Eisenrohren und anderen Überzeugungsmitteln bewaffnet, konnten wir sowohl die Bustür als auch unsere Rucksäcke schützen.
Es ging richtig indisch weiter. Bereits sechs Kilometer hinter Darjeeling brach der Bus zusammen. Dies kostete uns die einzige Möglichkeit durchzukommen. Während am Bus gebastelt wurde, riefen die Gurkhas aus den vorbeifahrenden Jeeps, dass man uns weiter unten erwarten würde.
Es war viel los. Vom Pass bei Ghoom aus sah man etwa ein Dutzend brennende Häuser, und als wir Kalu Rinpoches Stadt, Sonada, erreichten, war die Straße von zweihundert betrunkenen Nepalesen blockiert. Zuerst versuchten sie, den Fahrer zu töten. Er war von den Indern zur Fahrt gezwungen worden, und die Soldaten sollten vor allem ihn schützen. Schon beim ersten Angriff bekam er eine tiefe Wunde an der Stirn. Während die reichen Inder im abgesicherten Teil des Busses vor Angst
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