Über Alle Grenzen
schrieen, gelang es Hannah, tapfer wie immer, die Tür so weit zu öffnen, dass der Fahrer in den Wagen hereinkommen konnte. Hier verkroch er sich unter dem Rock einer groß gewachsenen dänischen Frau und zitterte vor Angst. Die nächste Angriffswelle war ein Steinhagel, der die Scheinwerfer und mehrere Fenster des Busses zerstörte. Währenddessen machten die siebzehn großen, gesund aussehenden Soldaten mit riesigen Schnurrbärten ihrem Heer jede Ehre. Sie schlichen sich mit ihren meterlangen Gewehren samt Munition aus dem Bus und machten sich jetzt so klein wie möglich auf der linken Seite des Fahrzeugs, die nicht angegriffen wurde. In meinem ganzen Leben habe ich kaum etwas so Peinliches und Feiges gesehen. Ich rief ihnen zu, wenigstens in die Luft zu schießen, um die Angreifer einzuschüchtern. Sie wagten jedoch überhaupt nichts und waren wie gelähmt.
Einen bestimmten Gurkha hätte ich mir sehr gerne selbst vorgenommen. Es juckte mich in den Fingern. Er war der Größte von allen, hatte das längste Messer und schrie die ganze Zeit laut, während er sich auf die Brust klopfte. Mit dem Aufbau meiner ganzen Meditationskraft konnte ich ihn aus der Entfernung gerade noch daran hindern, die Reifen zu zerstechen. Wäre das geschehen, hätten wir nie rechtzeitig Kathmandu erreicht. Jetzt stand nicht mehr geistiges Reifen im Vordergrund, sondern die Rettung der Gruppe und des Gepäcks. Niemand war bis dahin von Glassplittern oder Steinen verwundet worden, aber jetzt schleppten die Nepalis Benzin an und wollten den Bus anzünden. Ich rief zu Hannah hinunter, dass niemand den Bus verlassen dürfe, und versprach denen, die das Dach erklettern wollten, einen heißen Empfang. Es herrschte ein totales Durcheinander, und die Lage spitzte sich zu. Schließlich kam einem Einheimischen der Einfall, den Bus rückwärts aus der Stadt bis vor Kalu Rinpoches Stupa zu fahren. Hier ließen sie den Druck aus den Bremsen und verschwanden.
Die Stupas vor Kalu Rinpoches Kloster in Sonada
Nach ein paar Stunden kam dann Verstärkung: mehrere Jeeps und etwa hundert vollständig bewaffnete Soldaten. Sie marschierten mutig durch das jetzt menschenleere Sonada. Endlich sahen wir auch die Macht der glorreichen indischen Armee: Ein paar Nepalesen vor Kurseong, die zu langsam eine Baumwurzel von der Straße entfernten, wurden getreten und mit Gewehrkolben geschlagen, bis wir hinliefen und es beendeten. Die Peinlichkeiten nahmen überhaupt kein Ende. Ob in Uniform oder nicht, jeder schaffte es, sich völlig unmöglich zu verhalten.
Nach zwei harten Nächten, eine in Siliguri ohne Moskitonetze, die andere im Bus durch Nepal, war es schön, am nächsten Morgen ins Flugzeug nach Europa steigen zu können. Wir sehnten uns sehr heftig nach Leuten, die nicht derartig ihr Gesicht verlieren.
In diesem Herbst machten Dorrit und Pedro an Karmapa und seine Schüler ein riesiges Geschenk: einen Bergrücken östlich von Malaga mit einem verlassenen Dorf darauf, wie geschaffen für ein Zentrum, das Hannah und ich leiten sollten. Seit ihrer Zuflucht bei mir war das Vertrauen von Dorrit und Pedro unerschütterlich, was sich hier sehr lohnte. Wir verschoben alle Verabredungen, um gemeinsam nach Südspanien zu fahren. Auf der kurvenreichen Strecke dorthin verschliss ich freudvoll das halbe Reifenprofil eines roten BMW. Am Südrand der Pyrenäen übernachteten wir in einem kleinen Hotel. Am nächsten Morgen, als Pedro und Dorrit uns anboten, dass wir das Zentrum im Süden gemeinsam besitzen sollten, schauten wir zum Fenster hinaus. Der Umriss der Berge vor uns war genau wie derjenige in Osttibet, der 900 Jahre zuvor Gampopa, Lehrer des ersten Karmapa, beflügelt hatte, seine berühmte Krone über einen Schuh Milarepas zu bauen. Es war offensichtlich die richtige Stelle für ein solches Versprechen.
Mit Dorrit und Pedro in Karma Gön
Pedros Familie lebte in Madrid; wir wohnten bei seiner Schwester, die wie er eine Energiebombe und ein totaler Schatz ist. Danach ging es Richtung Süden durch die kastilische Hochebene, bis wir schließlich unser Gebiet, einen östlichen Bergkamm unterhalb eines alten Beobachtungsturms, erreichten. Nach der Hauptstelle in Osttibet nannte ich das Zentrum “Karma Gön”. Karmapa hatte diesen Namen bereits einem Zentrum in den Pyrenäen gegeben, das sich dann aufgelöst hatte; nun wollte ich seine Wünsche ehren.
Ein großes Geschenk - Karma Gön 1986
Das Dorf bestand damals aus zwei Reihen verfallener Bauernhäuser am
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