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Über Alle Grenzen

Über Alle Grenzen

Titel: Über Alle Grenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lama Ole Nydahl
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lag das größte Vogelgeschäft der Stadt. Wenn er im Laden stand, lauschte er einen Augenblick und sagte dann: “Der Vogel da erzählt die schönsten Sachen, aber der andere dort nur Unsinn.” Er streckte die Hand in den Käfig, und der Vogel, den er haben wollte, flog zu ihm hin. Die Vogelhändler, die so etwas noch nie gesehen hatten, gingen oft von selbst ein gutes Stück mit dem Preis hinunter.
    Was wir am meisten gewünscht hatten, war gelungen. Der Besuch wurde zu einem Familientreffen. Die Geschmeidigkeit der Tibeter und die Hingabe unserer Freunde führten zu den Ebenen der Offenheit, die wirkliche Übertragungen geschehen lassen. Karmapa strahlte wie die Sonne. Jeden Augenblick geschah etwas Bedeutendes, und sein Kraftkreis sprengte alle Grenzen.

    Auf dem Weg nach Stockholm war der gute Zusammenhalt auch notwendig. Bei einem nahen Freund der farblosen schwedischen Schülerin von Muktananda, mit der wir den Hof in Südschweden gekauft hatten, waren wir zur Übernachtung eingeladen. Er hieß Karl Birger und war einer von der Sorte, die bei mir Gänsehaut auslösen. Er kam von der Westküste Schwedens und war zutiefst sauer, denn er hatte die Technik für die Kirlian-Photographie schon vor Kirlian erfunden, aber kein Patent darauf angemeldet.
    Alle erlebten einen wunderbaren Tag mit Karmapa. Der Bus fuhr durch die verschneiten Wälder in Norwegen und Schweden. Die Zöllner an der Grenze durchsuchten alle außer uns - sie entdeckten nicht einmal die Vögel -, und Stunden danach erreichten wir das verlassene Dorf Karl Birgers. Es lag unweit der Stadt Mora, in der sehr scharfe Messer aus geschichtetem Stahl für Waldarbeiter hergestellt werden. Das Dorf befand sich inmitten einer industriegeschädigten Gegend, die Bäume waren schon gefällt, und nun wollte Birger es, offenbar mit sich selbst als Guru, zu einem geistigen Zentrum aufbauen.
    Als wir dort ankamen, war nichts, überhaupt nichts vorbereitet. Trotz mehrerer Einladungen an Karmapa in Oslo war Karl alleine in einem kalten Haus, die Schränke waren leer. Zuerst ging es also darum, für Karmapa Essen zu besorgen, denn um mit dem langsamen Bus voranzukommen, hatten wir auf jede Pause verzichtet. Ich kann mir nicht erklären, wie sie es schafften. Da ich in früheren Lebenszeiten in jeder Weise den weiblichen Buddhas gedient habe, bin ich glückliche 64 Jahre alt geworden, ohne jemals eine Mahlzeit gekocht zu haben. Dennoch gelang es, etwas halbwegs Essbares für Karmapa herzustellen. Die Hausfeen, denen die Umwandlung der Substanzen gelang, waren wohl Akong Tulku und Lody Sherab. Wer sonst etwas essen wollte, bekam alte Haferflocken.
    Die nächsten Tage dagegen hatten Stil. Wir erlebten das Feinste, was europäische Kultur zu bieten hat. Nikita Tolstoi, ein älterer, kraftvoller Herr und direkter Nachkomme des gleichnamigen russischen Schriftstellers, war unser Wirt. Er und die schöne Diana mit dem Volvo-Geld im Rücken hatten sich gefunden. Sie luden uns in ihr Rokoko-Schloss nördlich von Uppsala ein, einem geschmackvoll angelegten gelben Riesenbau. Es hatte meterdicke Mauern, geheime Treppen, und in jeder Ecke standen Rüstungen. Es war ein gediegenes Gebäude, dessen wohlerhaltener Zustand deutlich zeigte, dass die Schweden während der letzten Kriege zwar Waffen überallhin verkauft, sich selbst aber aus Streitigkeiten herausgehalten hatten.
    Die erste Nacht wurde dramatisch. Wir wohnten im zweiten Stock, ein paar Zimmer von Karmapas Raum entfernt, an einem hellgrünen Gang mit breiten Eichentüren. Während alle schliefen, hörten wir plötzlich ein lautes Schreien aus dem Raum nebenan und das Gepolter von umgeworfenen Möbeln. Mit dem Bajonett, das ich immer dabei hatte, sprang ich auf den Flur hinaus. Damals war ein chinesischer Mordanschlag auf Karmapa durchaus möglich. Es waren aber keine Herren in Mao-Uniformen, die mir begegneten, sondern Akong Tulku. Er war käsebleich: Er hatte eine Hand frei im Raum schweben sehen, gefolgt von einer Dame, die ihren abgeschnittenen Kopf unter dem Arm trug. Ich wollte sofort hinein. So eine Dame hatte ich noch nie gesehen, aber Karmapa hielt mich zurück und sagte: “Das erledige ich!” Er ging in das Zimmer und warf einige Reiskörner. Am nächsten Tag im Bus fragte er mich dann: “Was war eigentlich das Besondere an der letzten Nacht?” Ich antwortete: “Warum hast du mich die Dame nicht sehen lassen?” Karmapa ging nicht darauf ein, sondern sagte: “Das Besondere war Akong Tulku. Nachdem ich

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