Über Alle Grenzen
sprachen auch fast dieselbe Sprache. Natürlich sollten die baltischen Staaten frei sein, aber das Bild ist nicht so einfach, wie es dargestellt wird. Da die Esten praktisch begabter sind als die Russen, wollen sie ihre Einkünfte nicht mit ihnen teilen.
Es dauerte lange, den Professor zu finden, dessen sonst einfache Anschrift wir dabei hatten: Da unsere “Geldwechsler” auf Russisch nach dem Weg fragten, schickten die Leute uns ständig in die entgegengesetzte Richtung. Sogar Krankenwagen blieben aus, wenn man auf Russisch nach ihnen rief. “Wir haben die Russen nicht gebeten zu kommen”, sagten die Esten. Der Professor und seine beiden Freunde vereinigten zur Vollkommenheit das Unmögliche des Nationalismus und des Traditionalismus. Ihr Buddhismus war nicht viel besser. Er stammte aus schlecht übersetzten Büchern, meistens von nicht-meditierenden Christen geschrieben, sowie von Besuchen in den burjatischen Gelugpa-Klöstern Sibiriens, wobei sie kaum mit den wenigen Mönchen sprechen konnten, die irgendwie Stalin überlebt hatten und selten eine Übertragung besaßen. Da sie lieber diskutieren als meditieren wollten, konnten wir sowieso nur wenig für sie tun. Die dritte Quelle ihres Wissens, ein mongolisch aussehendes Kloster im Norden Leningrads, war von dem Tibetforscher Roerich erbaut worden. Es hatte den Krieg überlebt, aber die Kommunisten verwendeten jetzt freundlicherweise das Gebäude für Tierversuche. Wir waren dort schon zweimal von Kittelträgern empfangen worden und fuhren jeden Tag auf dem Weg in die Stadt an dem stattlichen Gebäude vorbei.
Unsere Begegnungen mit den Behörden bis dahin waren übrigens durch die unmöglichen Geschwindigkeitsbegrenzungen entstanden: 60 oder 90 Stundenkilometer. Irgendein Menschenfeind hatte den Einheimischen Radaranlagen verkauft, und wir hatten keinen der Warner mitgenommen, die sich jedes Jahr und weltweit so gut auszahlen. Sie verdienten also einige Mark und einen Segen. Als die Buße einmal fünf Euro überstieg, sagten wir “Nein!”, woraufhin sie lange Zettel schrieben, die wir dann an der Grenze vorzeigen sollten. Zusätzlich zu ihren Schwierigkeiten mit europäischen Geschwindigkeiten hatte die Polizei auch am eigenen Selbstbild zu knabbern. Zu dieser Zeit hatten ein paar klare Köpfe einmal richtig nachgezählt und konnten beweisen, dass Stalin und seine Behörden fünfzig Millionen Menschen in den Tod getrieben hatten. Sogar in Russland war es schwierig, so breite Schultern zu finden, die dieses Erbe tragen konnten.
Die Ausreise wurde hektisch. Wir hatten noch abends den Leningrader Freunden genügend Tonbänder und Bücher zum Übersetzen hinterlassen und sogar schon unser Gepäck durch den russischen Zoll geschleust, als Hannah plötzlich bleich wurde: Unsere Pässe fehlten! Wir hatten sie zuletzt im Hotel in Tallin verwendet. Dort waren die Leute so sauer gewesen, dass wir uns mit Erleichterung davonmachten, ohne noch einmal mit ihnen zu reden. Die Pässe und andere Papiere mussten noch dort sein. Zu unserer geringen Verwunderung erwiesen sich die im Raum herumstehenden kräftigen Herren plötzlich als Geheimpolizisten, und sogar als fähige. Sie riefen ein Büro im nahen Wiborg an, wo sie bereits alles wussten: Die Pässe seien schon zum Leningrader Flughafen weitergeschickt worden. Es war zwar unmöglich, hinzufahren und noch vor Grenzschließung um Mitternacht zurückzukommen; aber wenn das nicht gelingen sollte, würde der Kopenhagener Empfang für den Dalai Lama platzen. Zunächst sahen wir noch die Kraft des russischen Volkes: Eine Handvoll Arbeiter hob das hintere Teil des schweren Autos im Nu wieder auf die Rampe, von der es wegen meines zu schnellen Zurücksetzens abgekommen war. Der Flughafen lag auf der anderen Seite der Stadt und musste ein Staatsgeheimnis gewesen sein. Keine Schilder führten hin, und niemand wusste, wo er sich befand. Doch der große alte BMW schaffte es. Ein letzter – und bleibender – Eindruck von Russland war die hemmungslose Freude eines Mannes, als ein Militärbus und ein Polizeijeep aufeinander fuhren. Er sprang aus seinem Auto und hüpfte herum, außer sich vor Freude.
Wir fuhren nachts am Hotel des Dalai Lama in Helsinki vorbei, und nach den Weiten Schwedens erreichten wir Helsingör nördlich von Kopenhagen drei Stunden, bevor der Dalai Lama mit seiner halben Regierung ankam. Unsere Freunde aus dem Zentrum hatten den großen Besuch bestens vorbereitet. Auch die dänische Regierung – sonst so
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