Über Alle Grenzen
Manilas abkam, geriet er in etwas Ungewohntes: Der Hass der Slumbewohner gegen die Bessergestellten schlug ihm voll entgegen. Keine fünfzig Meter von den großen Geschäften entfernt strömten sie schreiend auf ihn zu und wollten ihn angreifen.
Auf der Rückfahrt mussten Tomek und ich vierundzwanzig Stunden in Amman, der Hauptstadt Jordaniens, verbringen. Wir bestaunten die unzähligen Weisen, wie sich Araber gegenseitig klein machen können. Dann landeten wir Anfang September in Wien; viele fuhren mit nach Graz zu einem Kurs über die Grundübungen.
Kurz danach erwachte wieder die Verbindung zu Russland. Michael aus Kiel hatte zäh die Verbindung mit den Ländern hinter dem “Eisernen Vorhang” gehalten. Er hatte alles vorbereitet, und so durchkreuzten Hannah und ich wieder Schweden und Finnland in dem großen BMW. Wir hatten neun Tage Zeit, bis der Dalai Lama mit seiner halben Regierung für vier wichtige Tage in unserem Kopenhagener Zentrum erwartet wurde.
Finnland war gepflegt, kalt und ungeistig wie immer; Russland aber war eine Welt für sich. Die Grenzbehörde in Uniform – die Geheimpolizei war von anderem Kaliber – bestand fast nur aus jungen Männern. Sie wirkten verlegen und schläfrig, das heilige Feuer des Sozialismus war schon lang erloschen. Der Weg durch die siebzig Kilometer entvölkerte Schutzzone des Landes danach war ein Trip. Sie geht bis Wiborg, einer alten finnisch-schwedischen Hafenstadt, in der wir uns auf die Schwingungen des riesigen Landes einstellen konnten; seit 1968 hatten wir nur den Flughafen Moskaus gesehen. Was ich spürte, war ein Dauerschock. Er war viel ausgeprägter als in China, wo die Einwohner niemals europäische Erwartungen an die menschliche Natur gestellt haben. Am stärksten war eine dumpfe, unterbewusste Sehnsucht nach etwas Jenseitigem spürbar. Grobe Nachlässigkeit im Umgang mit der äußeren Welt war an den überall verstreuten Müllhaufen leicht erkennbar, und wir wurden mehrmals von Leuten gestoppt, die zu fast jedem Kurs Rubel loswerden wollten.
Vor Leningrad schliefen wir einige Stunden im Auto. Ohne es zu wissen, hatten wir vor dem einzigen Hotel, in dem Ausländer wohnen durften, gehalten. Als die Schilder mit der Aufforderung zur Anmeldung am Morgen zu sehen waren, fuhren wir sofort in die Stadt. Wir wollten alle Verbindungen geknüpft haben, bevor die Behörden uns beschatten konnten.
Unter den Großstädten, die wir besuchten, besaß Leningrad mit Abstand die schlechtesten Straßen; sie hätten sogar einen Osttürken in Verzweiflung gestürzt. Über eine Million Menschen waren hier während des Zweiten Weltkrieges verhungert, und die Polizei Stalins hatte eine ähnliche Zahl getötet, üblicherweise die Klügsten.
Wir riefen unsere Verbindungsleute an und parkten in der Nähe des Winterpalastes, von dem 1917 die kommunistische Revolution ausgegangen war. Während Millionen Bilder und Bücher den Aufstand der gesunden Arbeiterklasse gegen die entarteten Unterdrücker darstellen, hörten wir eine neue Seite: Die Matrosen, die die Regierung des menschlich sehr wertvollen Zaren aus dem weißen Riesengebäude verscheucht hatten, wollten vor allem zu einer Kompanie betrunkener weiblicher Soldaten, die sie aus den Fenstern zu sich riefen!
Wir wollten gerade die Autotür schließen, als uns zwei gesunde Jungen auf Englisch fragten, ob wir Geld wechseln wollten. “Ihr könnt ja reden”, sagte ich, “kommt mit!” So kaperten wir sie für die nächsten fünf Tage.
Ich lehrte vormittags, nachmittags und abends in den Privatwohnungen verschiedener Gruppen. Wie üblich wollten die wichtigsten Leute nicht zusammenarbeiten, so dass ich mehrere Sachen wiederholen musste. An keinem Ort früher waren wir einer solchen Mischung von Großzügigkeit und Misstrauen unter gewöhnlichen Menschen begegnet. Siebzig Jahre mit Spitzeln, Arbeitslagern und unzähligen Hinrichtungen hatten viele Gebildete zu Eigenbrötlern gemacht. Dennoch wurde jeder Augenblick genutzt, und die Russen waren so uneingeschränkt dabei wie die Polen. Noch dazu nahmen sie alles auf Band auf, was später sehr nützlich werden sollte.
Wir stellten ein Zelt auf, das die Polizei beobachten konnte, und fuhren dann verbotenerweise nach Tallin, der Hauptstadt Estlands. Einschließlich einer Mahlzeit fuhr ich die Strecke in weniger als drei Stunden, was mir später wenige glaubten. Die Bewohner des kleinen Landes waren so verschlossen und geistig unwach wie die Finnen, nur viel ärmer. Sie
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