Über Alle Grenzen
tugendhafteren und staubigeren Belehrung als in Europa, ganz und gar der freudlosen Stimmung des Klosters entsprechend, hatten wir genug. Punkt zwölf Uhr hielten wir quer über der verschneiten Autobahn nördlich von New York an. Während ein paar Flaschen Sekt von Auto zu Auto wanderten, feierten wir Neujahr 1989.
Die Menschenmassen füllten bei unserer Ankunft in New York noch den Times Square und verwunderten unsere Gruppe sehr, denn es war mehr Polizei als in den Ostblockstaaten unterwegs.
Ich hielt zum ersten Mal seit Jahren wieder einen Vortrag auf der Baca-Grande-Ranch in Colorado. Nur wenige Stunden von Boulder entfernt, überlagerte der Schmerz der Dharmadhatu-Anhänger das auch sonst nicht besonders frische Gefühl auf dem großen Landstück. Niemals war es klarer als dort, dass wir durchsichtig bleiben müssen – ohne ungesunde Machtapparate und gekünsteltes Verhalten.
Los Angeles war großartig, modern und verwirrt wie immer. Zwei Gruppen von Freunden, die hätten zusammenarbeiten sollen, schafften es stattdessen, zwei Programme für denselben Abend in unterschiedlichen Stadtteilen anzusagen. Dies schwächte meine Wirkung, aber im Laufe des Vortrags kam dennoch eine schöne Bande aus den fröhlichen Vor-Aids-Jahren in der Stadt zusammen. Die Gewässer waren noch aufgewühlt nach dem wochenlangen Besuch Kalu Rinpoches, und ich musste wiederholt die Eigenart tibetischer Sitten erklären. Mehrere fanden es rassistisch, dass er schon wieder einen tibetischen Lehrer auf Kosten eines westlichen aufgebaut hatte, der sogar zwei seiner dreijährigen Zurückziehungen abgesessen hatte. Seine Unterstützung des Regenten Tendzin konnten die Menschen auch schwer verkraften, und ich wäre zur Verbesserung der Stimmung gerne länger geblieben. Wegen der Verabredungen die Westküste entlang musste es aber bei einer Kassettenaufnahme bleiben, die sie vervielfältigen wollten. Jahre der Arbeit in den USA hingen in der Luft, und die besten Leute überall schüttelten ungläubig die Köpfe.
Mehr als je zuvor hatte Amerika jetzt unser zentraleuropäisches Beispiel nötig. Das Land brauchte reife Gruppen, die zusammenarbeiten konnten und fähig waren, selbst Verantwortung zu übernehmen. Umfassende dogmenfreie Belehrungen, zeitgemäße Meditationen in der Muttersprache und Besuche von Lehrern mit Lebenserfahrung waren wichtig. Hierarchische Systeme haben im demokratischen Westen keinen Platz, sie ziehen nur blutlose Mitläufer an. Diese erwarten dann, alles gesagt zu bekommen, und werden gegenseitig eifersüchtig auf die Nähe zum Lehrer. Andererseits wird Demokratie in täglichen Kleinentscheidungen leicht zu mühseligem Kaffeeklatsch, aber alle werden stark durch das offene Modell, das ich “Meritokratie” nenne. Dass man je nach Menge und Reinheit der eingebrachten Energie auf den Gebieten entscheiden kann, die man beherrscht, fördert Entwicklung und Zusammenarbeit.
Die Zeichen, ob Zentren gut oder schlecht laufen, sind übrigens leicht zu erkennen und immer gleich. Wenn die Menschen unabhängig und klar werden, mit Überschuss für andere und einer fröhlichen, weiten Einstellung zum Sex und zum Leben, ist das sehr gut. Sehr schlecht sind ein unklares Gefühl, saure Gerüchte und ein ständiges “sich auf Würdenträger berufen”, statt selbst zu denken. Der Diamantweg ist für geistig Weitergekommene, und man sollte das wissen, ohne deswegen stolz zu werden.
Nur wer sich zu benehmen weiß, für andere Überschuss hat und es schafft, die Sachen wenig persönlich zu nehmen, wird von diesem Weg Vorteil haben. Da sich die Eigenschaften durch eine nahe Verbindung zum Lehrer am besten festigen, ist das Vertrauen wichtig, dass er diese Eigenschaften auch besitzt. Heute, mit vielen tausend Schülern und einer linienschützenden Stellung rund um die Welt, messe ich Lehrer des Diamantwegs so: Wenn die Langweiler und Moralisten gegen sie und die Spannenden ihre Freunde sind, liegen sie richtig. Buddha wollte uns nicht zu Schäfchen machen, sondern unsere Kraft freisetzen. Wie soll man anderen Glück bringen, wenn man es bei sich selbst nicht schafft?
Wir verließen die Westküste für Veranstaltungen auf Hawaii. Diesmal waren die Stunden am Strand dem englischen Buch über die Grundübungen gewidmet. Auf der ältesten der Inseln, Kauai, mussten die Buddhas wieder etwas leisten: Tomek und ich wurden gleichzeitig von der Unterströmung auf Secret Beach weggezogen, wo kurz danach ein tibetischer Lama ertrank. Während
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