Über das Sterben
Lebewesen nur biologische Maschinen mit dem Ziel der maximalen Weitergabe, Vermehrung und Vermischung ihres genetischen Materials. Denkt man diese Hypothese weiter, so ist die evolutionär-biologische Funktion eines jeden Lebewesens spätestens dann erschöpft, wenn es möglichst viele Nachkommen gezeugt und für ihr Überleben bis ins fortpflanzungsfähige Alter gesorgt hat. Danach wird es bestenfalls zum Nahrungsmittelkonkurrenten für die eigenen Nachkommen ohne erkennbaren Vorteil für die Genverbreitung und sollte daher zum Vorteil der eigenen Gattung seine Existenz baldmöglichst beenden.
Dass der Mensch sich in seinem Fortpflanzungs- und Sozialverhalten nicht mehr evolutionskonform verhält, liegt auf der Hand. Einige der neueren Diskussionsbeiträge zur Sterbeproblematik, wie die Forderung nach dem «sozialverträglichen Frühableben», ließen sich allerdings problemlos evolutionstheoretisch unterfüttern. Darin liegt auch ihre Gefährlichkeit in einer Welt, in der die Ressourcenverteilung zunehmend nach dem (aus der Evolution hinlänglich bekannten) Gesetz des Stärkeren erfolgt.
Glücklicherweise hat die Menschheit in ihrer Kulturgeschichte auch andere kulturelle, moralische und religiöse Deutungen des Lebens und des Sterbens entwickelt, die den Strategien der Evolutionsbiologie und Ökonomie gegenüberstehen. Eine umfassende Darstellung würde den Rahmen dieses Buches sprengen, aber einige davon werden in den folgenden Kapiteln Erwähnung finden.
Der programmierte Zelltod
Wenn man in Physiologie-Lehrbüchern nach dem Stichwort «Sterben» sucht, wird man durchaus fündig – allerdings nur, was den Tod einzelner Zellen, Gewebeteile oder bestenfalls Organe betrifft. Der Zelltod ist besonders gut untersucht, weil ihm eine zentrale Rolle gerade in der Embryonalentwicklung zukommt. Hier kommt es zum sogenannten «programmierten Zelltod» (Apoptose): Neue Zellen werden während des Wachstums und der Differenzierung der Organe im Überschuss gebildet und konkurrieren dann miteinander um eine beschränkte Menge von Wachstumsfaktoren. Diejenigen Zellen, die keinen Zugang zum Wachstumsfaktor bekommen, sterben – aber nicht einfach so: Sie schalten regelrechte Selbsttötungsgene an und bringen sich selbst, zum Wohle des Ganzen, damit aktiv um. Das tun sie in einer Weise, die für den Organismus am wenigsten schädlich ist: durch eine Art Zellimplosion, welche die potentiell schädliche Freisetzung von Zellinhalt verhindert und das Abräumen der Zellreste durch spezielle Immunzellen (die Müllabfuhr des Körpers sozusagen) erleichtert. Diesem Prozess ist es wesentlich zu verdanken, dass die hochkomplizierten Vorgänge bei der Embryonalentwicklung in der Regel zufriedenstellend ablaufen. Deshalb, und nur deshalb, besitzen Kinder bei ihrer Geburt fast immer die vorgesehene Anzahl an Gliedmaßen, Organen und Nervenzellen – was jedes Mal einem kleinen Wunder gleichkommt.
Durch diese Erkenntnisse bekommt der alte Spruch «Media vita in morte sumus» (mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen) eine unerwartete Bedeutung. Der Tod begleitet uns nicht nur von Geburt an, sondern sogar schon vorher; er istunabdingbare Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt als lebensfähige Organismen auf die Welt kommen können. Auch während unseres Lebens spielt der Zelltod in der Physiologie des Organismus eine wichtige Rolle, vor allem im Immunsystem. Bestimmte weiße Blutkörperchen (sog. T-Lymphozyten) haben die Aufgabe, virusinfizierte oder bösartig entartete (krebsverursachende) Körperzellen zu erkennen und sie mittels Anschaltung ihres eigenen Zelltodprogramms zu vernichten. Ebenso werden bei der Reifung von weißen Blutkörperchen diejenigen Zellen, die sich gegen das eigene Gewebe richten würden, durch programmierten Zelltod beseitigt. Das ist nicht trivial, denn wenn dabei etwas schiefläuft, können schwere Autoimmunkrankheiten wie z.B. die Multiple Sklerose oder die rheumatoide Arthritis die Folge sein.
Der Organtod
Dass Teile von Organen oder sogar ganze Organe sterben können, ohne dass der gesamte Mensch deswegen sterben muss, ist hinreichend bekannt. Ursache dafür ist meistens eine Einschränkung der Blutversorgung, wie beim Hirn- oder Herzinfarkt, oder ein Trauma, etwa bei der Milzruptur. Auf die Milz können wir im Notfall verzichten, auf Herz oder Hirn allerdings nicht, daher sind bei diesen beiden nur Teilschädigungen erlaubt, wenn der Organismus insgesamt weiterleben soll.
Auch Gliedmaßen können
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