Über das Sterben
absterben und durch Amputation entfernt werden, ohne dass dies zwingend den Tod zur Folge hätte. Viele Tierarten sind in der Lage, zerstörte Organe oder sogar ganze Gliedmaßen zu regenerieren, also neu zu bilden. Diese Fähigkeit ist mit zunehmender Spezialisierungund Komplexität der einzelnen Organe im Laufe der Evolution immer mehr eingeschränkt worden. Aber auch beim Menschen besitzt beispielsweise die Leber eine hohe Regenerationsfähigkeit, die Haut sowieso, und nach neuesten Befunden kann sich sogar das Gehirn mit Hilfe sogenannter neuronaler Stammzellen nach Schäden in begrenztem Maße selbst regenerieren. Dieses Wechselspiel zwischen Tod und Leben begleitet uns also von der Befruchtung bis zur Bahre (und sogar darüber hinaus, wie wir später sehen werden).
Gesamttod des Organismus
Hierzu wissen wir mit Abstand am wenigsten. Ein Beweis dafür findet sich auf den meisten Todesbescheinigungen, auf denen als unmittelbare Todesursache «Herz-Kreislauf-Versagen» eingetragen wird. Das Herz-Kreislauf-Versagen, also das Ende der Herzfunktion und des Blutkreislaufs, ist aber in den meisten Fällen nicht die Ursache des Todes, sondern lediglich ein sichtbares Zeichen hierfür. Was verursacht wirklich den Tod eines Gesamtorganismus? Und wann tritt dieser genau ein? Darüber gibt es kaum Untersuchungen. Diese wären jedoch sehr hilfreich, denn Ärzte werden immer wieder von den Sterbeverläufen ihrer Patienten überrascht, wie die folgenden Fallbeispiele zeigen.
Heinz F., 73 Jahre alt, hatte Lungenkrebs mit Tochtergeschwülsten in Leber, Knochen, Haut und Gehirn. Seine Nieren funktionierten so gut wie nicht mehr, sein Bauch und seine Lungen waren voller Wasser, und seine Blutwerte waren weit von dem entfernt, was in Lehrbüchern als mit dem Leben vereinbar betrachtet wird. Er war auf 40 kg abgemagert, woran auch diekünstliche Ernährung nichts zu ändern vermocht hatte. Diese hatte er zuletzt abgelehnt, wie auch die Dialyse und alle lebensverlängernden Maßnahmen. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als zu sterben, und dieser Wunsch blieb auch bestehen, nachdem die Atemnot mit Morphin erfolgreich gelindert werden konnte. Aber sein Wunsch erfüllte sich nicht. Jeden Tag fragte er die Ärzte aufs Neue, wann es denn mit ihm «so weit» sei. Um Sterbehilfe bat er nicht, aber das Leiden an der eigenen Existenz war überdeutlich. Er hatte sich von seiner Familie verabschiedet, es gab aus seiner Sicht keine «unerledigten Geschäfte», und doch dauerte es weitere zwei Wochen, bis er schließlich sterben durfte – zwei Wochen, die nach Ansicht auch der erfahrensten Ärzte eigentlich jenseits des physiologisch Möglichen lagen.
Mathilde W., 85 Jahre, hatte Brustkrebs mit Knochenmetastasen und brauchte eine bessere Einstellung ihrer Schmerzmedikation. Sie kam auf die Palliativstation, und die allgemeine Einschätzung war, dass sie nach der Verbesserung ihrer Schmerzsituation nach Hause entlassen werden und dort noch einige Monate mit guter Lebensqualität verbringen könne. Am Abend des dritten Tages (die Schmerzen waren schon deutlich gebessert) sagte sie zur Nachtschwester: «Ich werde heute Nacht sterben.» Die Krankenschwester war erstaunt, denn nichts deutete darauf hin, und die Entlassung war für Ende der Woche schon geplant. Sie versuchte, die Patientin zu beruhigen, die aber gar nicht beunruhigt schien, sondern gelassen bei ihrer Meinung blieb. Und tatsächlich starb sie gegen 4 Uhr morgens im Schlaf.
Fast alle Ärzte wissen von Patienten zu berichten, die nach klinischer Einschätzung wegen des fortgeschrittenen, durchLaborwerte eindeutig dokumentierten Ausfalls mehrerer lebenswichtiger Funktionen ihres Körpers eigentlich schon längst hätten tot sein sollen – und dennoch viel länger weiterlebten. Auf der anderen Seite stehen Menschen, die zwar alt und/oder schwer krank sind, aber nach Meinung der sie versorgenden Ärzte und Pflegenden sich noch lange nicht im Sterbeprozess befinden – und doch «unerwartet» sterben, ohne dass sich dafür selbst bei der Obduktion eine plausible Ursache finden lässt. Wie sind diese Beobachtungen zu erklären?
Was wir sicher wissen, ist, dass der Mensch nicht «auf einmal» stirbt, sondern dass die einzelnen Organe mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihre Funktion einschränken und später ganz einstellen. In der Sterbephase ist meistens eine sogenannte Kreislaufzentralisation zu beobachten: Die herzfernen Körperteile
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