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Über das Trinken

Über das Trinken

Titel: Über das Trinken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Richter
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ein längeres Leben. Mal ist es andersherum. Meiner Beobachtung nach betonen britische und französische Studien eher die gesundheitsfördernden Aspekte, während nach amerikanischen und skandinavischen Untersuchungen meistens schon geringe Mengen ungeahnt schädlich seien. Ausschlaggebend ist vermutlich das jeweilige Interesse der Forscher: Sind es Abstinenzler oder Leute, die ihren eigenen Alkoholkonsum verteidigen wollen? Die Wissenschaftler haben den Alkohol immer nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, daß alles das gleichzeitig in ihm steckt.
    Daß der Alkoholismus nicht einfach nur eine schlechte Angewohnheit ist, der mit gutem Willen und Gottesfurcht schon beizukommen wäre, sondern eine Suchtkrankheit, die ihre Opfer auch mit körperlichen Qualen in ihren Fesseln hält: Das hat zuerst der schottische Arzt Thomas Trotter beschrieben  – und das ist gerade einmal zweihundert Jahre her. Aber die Griechen scheinen auch das schon gewußt oder geahnt zu haben, und sie haben es geschafft, das alles in eine einzige geniale Denkfigur zu integrieren: den Gott Dionysos, den die Römer Bacchus nannten.
    Die bekannteste Version der Geschichte ist die, daß der Vater des Dionysos Zeus war und seine Mutter die thebanische Königstochter Semele. Aber es gibt noch dermaßen viele andere Varianten, daß man davon ausgehen
muß, es mit einer sehr alten Gottheit zu tun haben, mit einer, die schon lange vor den Griechen bekannt war. Entscheidender sind ohnehin die Phänomene, die die Menschen mit seiner Hilfe zu fassen versuchten. Entscheidender ist das, was Dionysos tut: Er verwandelt. Erst Wasser in Wein. Dann Trinkende in Betrunkene.
    Dieses zweifache Wirken des Dionysos, diese hinreißende Parallelschaltung von zwei mirakulösen Vorgängen, ist eine der rührendsten und poetischsten Ideen, die ich kenne.
    Dionysos verlängert das Prinzip der Gärung sozusagen in den Trinkenden hinein, er ist die Hefe in uns, die belebende Kraft, die auch in den vielen medizinischen Anwendungen zum Ausdruck kommt. Und wenn man das Prinzip zum Dreischritt weiterdenkt, dann gilt das sogar noch für die Betrunkenen, die sich ja gern für die Hefe der Gesellschaft halten, müde Menschengruppen beleben, lärmend den Raum an sich reißen und in ihrem Frohsinn niederwalzen, was sich ihnen in den Weg stellt. Wir sprechen ja auch nicht ohne Grund von Enthusiasmus; das Wort »entheos« bedeutet ein Erfülltsein von Gott  – und der Gott, der da gemeint war, ist eben Dionysos. Sie gaben ihm den Beinamen »der Löser«, weil er von der Erdenschwere befreite, von den Betrübnissen des Alltags und von den Hemmungen, aus sich herauszugehen. Manche gingen so weit aus sich heraus, daß sie nicht so schnell wieder heimfanden. Aber auch
das war Teil des Programms: der »göttliche Wahnsinn«. Wenn schon die Urvölker die verschiedenen Stadien der Alkoholwirkung kannten, also alles zwischen Anregung, Euphorisierung, Vernebelung und Tod: Dann haben die Griechen mit ihren dionysischen Feiern eine Art Trainingslager daraus gemacht. Euripides beschreibt in den »Bakchen«, wie besonders die Frauen sich bei diesen sogenannten Dionysien in ekstatische Seelenzustände hineintanzen  – und zwar als Vorgeschmack auf das Heil im Hades, wo ununterbrochene Symposien warten und ein einziger ewiger Rausch. Diese Art, sich das Paradies als Trinkflatrate vorzustellen, als Gelage ohne Kater und als Rausch ohne Reue, die begegnet einem sogar noch im Islam.
    Der Koran stellt für das Jenseits jede Menge Wein in Aussicht, verbietet aber im Diesseits das Trinktraining. Da scheint mir der antike Weg, diese Gefilde sozusagen im irdischen Dasein schon mal zur Probe zu bewohnen, irgendwie menschenfreundlicher.
    Hierzu einen kleinen Exkurs in die Gegenwart: Im Frühjahr 2009 war von einem 37 Jahre alten Mann zu lesen, der in Baden-Württemberg bei einer Geburtstagsfeier auf den Gedanken kam, daß es unterhaltsam sein könnte, eine nahegelegene Sprungschanze auf einer umgedrehten Bierbank herunterzurutschen. Leider hatte er am unteren Ende der Schanze ein stählernes Absperrseil nicht gesehen. Der Mann schnitt sich, wie in der Presse
zu lesen stand, »das Gesicht ab« und starb vor den Augen seiner Freunde. Was mir von dieser Geschichte besonders in Erinnerung geblieben ist, ist etwas, was angeblich die Ehefrau des Mannes gesagt haben soll. Es war die Einsicht, wenigstens sei er volltrunken gestorben, bester Laune und in dem Bewußtsein, gerade eine sensationell

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