Ueber den Horizont hinaus - Band 1
bemerkte er zum ersten Mal einen bitteren Zug um den Mund des Dunkelhaarigen.
Schnell richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Tassen und streckte unsicher die Hand nach seiner aus. Vermischt mit der Wärme des Tees, verteilte sich der Geruch des Alkohols im Raum. Die Moleküle tanzten in der Luft, schienen geradewegs durch die Nase in Marvins Gehirn zu wandern. Als er sich wieder zu Ian umblickte, war das Bittere aus dessen Gesichtszügen verschwunden, und Marvin kam es vor, als habe er es sich nur eingebildet.
Er ergriff seine Tasse und nickte Ian dankbar zu. Eigentlich war es kein Wunder, dass seine Phantasie ihm permanent Streiche spielte, nicht solange er seine Vergangenheit nicht endgültig abzuschütteln wusste.
Und wer behauptete, dass es jedem so gehen müsse, wie es ihm selbst ergangen war?
Es gab unzählige Möglichkeiten für einen Gefallen, den Ian jemandem für diesen Preis erwiesen hatte. Wahrscheinlich eine Arbeit abgenommen, einen Sieg im Sport errungen, oder auch nicht errungen. Marvin würde sich nicht erdreisten, eine Meinung darüber zu bilden, so geheim und verborgen sie auch sein mochte.
Er hob die Tasse an die Lippen, atmete genießerisch den Duft ein, der ihm nach den erzwungenen Wochen Abstinenz wie das göttlichste Ambrosia vorkam, und nahm schließlich einen kräftigen Schluck. Er schmeckte das scharfe Getränk auf seiner Zunge, fühlte, wie es die Kehle hinunter rann. Vielleicht war es nicht der beste Tropfen, aber dennoch einer der angenehmeren Wege, der trostlosen Wirklichkeit zu entfliehen.
„Danke“, seufzte Marvin und schloss die Augen. „Ist einfach schon zu lange her.“ Als er seine Augen wieder öffnete, sah er Ian vor sich, der ihn belustigt anblickte.
„Ist das so?“, fragte dieser neckisch. „Da bin ich ja froh, dass ich für die richtige Weihnachtsstimmung sorgen konnte.“
„Das kannst du allerdings“, bekräftigte Marvin und fühlte, wie sich die wohlige Wärme in ihm ausbreitete. „Das ist definitiv eines der besseren Weihnachtsfeste für mich.“
Ian verengte seine Augen zu Schlitzen und Marvin fiel auf, dass er zwar die Tasse hielt, aber noch immer nicht davon getrunken hatte, als er schließlich über ihren Rand hinweg sprach. „Die anderen können aber doch nicht so schlimm gewesen sein.“
Marvin schüttelte den Kopf. „Das kommt ganz auf den Blickwinkel an“, antwortete er ausweichend und nahm noch einen Schluck. Das warme Gefühl verteilte sich mit seinem Blut, strömte durch die Glieder und erhitzte ihn angenehm von innen. Nach einem weiteren Schluck spürte er, wie sich seine Zunge löste, und zu seinem Erstaunen empfand er auch dies als angenehm. Und ehe er sich versah, hatte Marvin sich komfortabel zurückgelehnt und betrachtete mit offenem Interesse die schlanken Finger, mit denen Ian seine Tasse hielt, während er sprach.
„Weihnachten gab es nur mich und meinen Vater. Seine Persönlichkeit gab dem Wort ‚eiskalt‘ eine vollkommen neue Bedeutung. Gelegentlich erinnerte er mich daran, wie meine Mutter Selbstmord begangen hatte. Damals war ich drei Jahre alt, aber er ließ es trotzdem immer so klingen, als sei es meine Schuld gewesen.“
„Das tut mir leid.“ Ians Augen trafen auf Marvins, der seine rasch niederschlug, um weiterzusprechen.
„Weglaufen wurde irgendwann zu einer echten Alternative. Nur ist…“ Er zögerte, fuhr dann fort. „Nur ist Weihnachten auf der Straße auch nicht gerade ein Hochgenuss.“
Er seufzte. „Wird dann zu einem Tag wie jeder andere. Einem, an dem man alles tut, um sein Überleben zu sichern. Und wenn es nur darum geht, einen Schlafplatz, etwas zu essen, die Droge, auf der man gerade ist, für diese eine Nacht zu finden.“
Ian nickte, als verstünde er auf einmal. „Aber du bist da heraus gekommen.“
Marvin trank ein weiteres Mal. Jetzt spürte er die Wärme bereits in seinem Gesicht. „Nicht direkt. Ich wurde eher an meinen Haaren hinausgezogen.“
Ian räusperte sich verlegen. „Wenn du nicht darüber reden willst, dann ist das okay.“
Marvin schüttelte den Kopf. „Ist schon in Ordnung.“ Er hob den Blick, starrte Ian verschmitzt an. „Nichts davon findet sich mehr in meinen Papieren. Dafür wurde gesorgt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Es würde dir also niemand glauben, solltest du es weitererzählen.“
Ian presste die Lippen zusammen. „Das würde ich niemals tun“, erwiderte er ruhig.
Marvin sah ihn erschrocken an. „Ich weiß“, murmelte er. „Das war
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