Ueber den Horizont hinaus - Band 1
Konto.
Eine Nacht blieb er noch, bevor er zurückkehren musste. Und in dieser Nacht musste Christian nicht fragen, ob er bei ihm bleiben dürfte.
Denn als er in Olafs Zimmer schlüpfte, wartete dieser schon auf ihn, hielt die Decke hoch und wartete, bis der Jüngere darunter geschlüpft war und sich wie an dem Abend zuvor an ihn geschmiegt hatte.
Es war nicht seltsam, nicht merkwürdig, dass ein erwachsener Mann mit seinem kleinen Bruder ein Bett teilte. Sie beide brauchten dies, brauchten die Versicherung, dass sie nicht alleine waren, dass alles gut war und alles gut sein werde.
Wussten sie doch beide, dass Olaf wieder ging und lange Zeit fortbliebe, und dass es kaum etwas gab, was die lange Trennung unterbrechen konnte, geschweige denn erträglicher machte.
*
Und so geschah es auch. Bis auf Besuche an den Feiertagen, konnte Olaf sich von seinen Pflichten nicht losreißen.
Erst im folgenden Sommer, in den letzten Semesterferien vor der Abschlussprüfung, kehrte Olaf für einen längeren Zeitraum in das Haus seiner Kindheit zurück.
Er brauchte Ruhe, um sich vorzubereiten, und Helena und Hannibal begrüßten seine Entscheidung, planten sie doch eine mehrwöchige Geschäftsreise und hielten es für eine gute Idee, die beiden Brüder für einen Sommer das Haus hüten zu lassen.
Zumindest sah es für Olaf so aus und er weigerte sich, auf das angenehme Kribbeln, das in ihm hochstieg bei dem Gedanken, Christian wiederzusehen und wenigstens für ein paar Wochen wieder besser kennen zu lernen, zu verzichten.
Als er ankam, waren ihre Eltern bereits abgereist, ein Umstand, der Olaf nicht unbedingt mit Trauer erfüllte.
Er fühlte einen Anflug von Enttäuschung, als er Christian weder vor der Einfahrt, noch auf den Stufen, die zum Haus hoch führten, erblicken konnte.
Das Haus blieb weitere zwei Stunden leer, die Olaf damit verbrachte, seine Sachen einzuräumen, das Arbeitszimmer, das ihm zur Verfügung stand, herzurichten und das Gebäude Schritt für Schritt von Neuem zu erkunden.
Er landete schließlich an der Hausbar und die Anspannung der letzten Tage, sowie die in ihm nagende Unruhe, verursacht durch Christians Abwesenheit, bewog ihn dazu, sich ein Glas einzuschenken.
Er hatte seinen Durst unterschätzt und so war er bereits beim zweiten Glas, als er Christian durch die Tür poltern hörte.
„Olaf!“ Etwas rumpelte laut und Christian fluchte. „Olaf, bist du schon da?“
Olaf antwortete nicht, lächelte stattdessen in sein Glas hinein, selbst erstaunt über das Ausmaß an Erleichterung, das Christians Eintreffen in ihm auslöste.
Der Jüngere stürmte die Treppen hinauf, klapperte mit Türen, bevor er die Stufen wieder herunter lief und schließlich schwer atmend, doch über das ganze Gesicht strahlend in der Tür stand.
„Da bist du ja“, sprudelte er hervor. „Warum hast du dich nicht gemeldet?“
Olaf hob die Augenbrauen. „Ich dachte, ein wenig Bewegung würde dir gut tun. Wahrscheinlich hast du doch vor, deinen Sommer mit Videospielen und Fernsehen zu verbringen.“
„Ach komm.“ Christian lachte, doch der Schalk saß ihm im Nacken. „Wie hast du das nur erraten, Brüderchen?“
„Ich kenne dich eben.“
Olaf stellte sein Glas ab und erhob sich, nur um sich gleich darauf von umstrickenden Armen gefangen zu sehen.
„Ich hab mich so gefreut, dass du kommst“, murmelte Christian gegen seine Brust.
Olaf strich ihm über sein Haar.
„Das habe ich auch“, gab er zu.
Beinahe entschlüpfte ihm die Frage, wo Christian gewesen war, doch im letzten Augenblick konnte er sich auf die Zunge beißen und zurückhalten. Sein kleiner Bruder war jetzt sechzehn Jahre alt, er hatte mit Sicherheit Besseres zu tun, als auf die Ankunft des Größeren zu warten.
Und obwohl Olaf sich über Anzeichen der Unabhängigkeit freute, konnte er doch die leichte Wehmut nicht leugnen, die ihn mit der Erkenntnis, dass er schon sehr bald nicht mehr gebraucht werde, erfasste.
„Also, was machen wir?“, fragte Christian, nachdem er sich wieder gelöst hatte und machte Anstalten, nach der Karaffe mit Whisky zu greifen. Doch Olaf stoppte ihn. „Was hast du vor?“, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Etwas trinken“, antwortete Christian in aller Unschuld. „Es ist keiner da, und ich hätte Lust auf einen Schluck.
Olafs Augenbrauen wanderten noch weiter in die Höhe. „Du trinkst?“
Christian zuckte mit den Schultern. „Was hast du denn gedacht? Ich bin sechzehn.“
„Dass du nicht mehr so
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