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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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Schulterblätter erkennen ließ.
    Olaf dachte daran, wie Christian sich als Neugeborener angefühlt hatte, so klein und hilflos.
    Hilflos kam Christian ihm auch jetzt vor, wie er in seinen Armen schluchzte. Jeder Zoll von ihm verlor den Anschein heranwachsender Männlichkeit. Er war ein Kind, das zu oft alleine gelassen wurde.
    Und Olaf fühlte, wie in ihm das Schuldgefühl hochkroch, das Bedürfnis, sich dafür zu entschuldigen, dass er so wenig für seinen Bruder dagewesen war, obwohl er doch geahnt, gewusst hatte, wie es für ihn gewesen sein musste, in diesem Haus aufzuwachsen.
    „Sch… alles ist gut“, murmelte er in Christians Haar hinein, pustete seinen Atem über die dunklen Strähnen, so wie er es bei einem Mädchen gewohnt war, das sich in seinen Armen ausweinte.
    „Ich bin immer da für dich“, sagte er. „Du kannst dich auf mich verlassen. Das weißt du doch.“ Christian nickte stumm, und sein Schluchzen beruhigte sich.
    Dennoch blieb er auf Olafs Schoß sitzen, seinen Körper gegen den des Größeren gepresst, bis dieser zu fühlen begann, wie ihm die Beine langsam einschliefen und ein wenig zur Seite rutschte.
    Schließlich lockerte auch Christian seinen Griff, kletterte dann von Olaf herunter und setzte sich neben ihn, doch ohne ihn loszulassen. Er lehnte seinen Kopf gegen Olafs Schulter und seufzte.
    „Ich liebe dich“, sagte er auf einmal unvermittelt und Olaf lächelte zum einen über das Unverblümte dieses Geständnisses, zum anderen über die Offenheit, die Christian zur Schau stellte, ungeachtet der Mehrdeutigkeit seiner Formulierung.
    Olaf rieb Christians Arm, als wollte er ihm etwas zurückgeben.
    „Ich habe dich auch lieb“, antwortete er dann. „Du bist mein Bruder und du wirst immer der wichtigste Mensch in meinem Leben sein.“
    Er wunderte sich selbst über die Worte, die so unbedacht und unkontrolliert seinen Lippen entschlüpften. In Gefühlssachen konnte er sich nicht erinnern, jemals seinem Herzen eine Stimme verliehen zu haben. Zu unsicher, zu wenig absehbar waren stets die Folgen.
    Von ihren Eltern konnte Christian eine Offenheit wie diese auch nicht ererbt haben, erinnerte Olaf sich doch nicht daran, auch nur eine einzige Gefühlsbezeugung jemals von ihnen gehört zu haben.
    Aber Christian war schon immer der offene, der anhängliche Typ gewesen. Es war kein Wunder, dass er sich auch im Aussprechen seiner Emotionen leichter tat, als der Rest der Familie.
    Christian seufzte zufrieden, als wäre Olafs Antwort genau die gewesen, die er sich ersehnt hatte und sein Körper wurde schwer, als er sich gegen den Größeren lehnte.
    „Kann ich heute hier schlafen?“, fragte Christian leise. „Ich… möchte nicht allein sein.“
    ‚Ich auch nicht‘, dachte Olaf im Stillen und fragte sich in diesem Augenblick, was das wohl zu bedeuten hatte.
    ‚Ich will sicher gehen, dass es ihm gut geht‘, erklärte er sich sein Gefühl, als er die Frage bejahte.
    Und als hätte Christian nur auf diese Antwort gewartet, löste er seinen Griff und krabbelte zum Kopfende des Bettes.
    Olaf blieb noch einen Moment auf der Kante sitzen, fühlte die Kälte, die an die Stellen seines Körpers zurückkroch, gegen die sich soeben noch Christians Wärme gepresst hatte.
    Als er es nicht mehr aushielt stand er auf und verschwand, ohne sich umzusehen in das angrenzende Badezimmer, wo er rasch in Nachtkleidung wechselte.
    Das unangenehme Gefühl, dass er einen Fehler machte, dass etwas an dem Szenario nicht stimmte, schob er beiseite, löschte das Licht und kehrte zurück in das Zimmer, in dem Christian bereits unter der Decke lag, die Augen geschlossen, sein Haar unordentlich über das Kissen verteilt.
    Er reagierte auch nicht, als Olaf von der anderen Seite ins Bett stieg.
    Erst als er sich auf den Rücken legte und ausatmete, regte Christian sich. Er rutschte, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, auf Olaf zu, hob seinen Kopf und legte ihn mit einem tiefen Seufzer auf Olafs Brust.
    Und ebenso natürlich schlang Olaf seinen Arm um den Jüngeren und zog ihn an sich.
    Christian seufzte. „Danke“, sagte er dann.
    Olaf lauschte auf die Atemzüge seines Bruders, die an Gleichmäßigkeit zunahmen, bis dieser in tiefen Schlaf gefallen war. Erst dann schloss er seine Augen und ließ die Träume kommen.
    *
    Olaf nahm den Rest auch in die Hand. Er sorgte dafür, dass Christian nicht mehr alleine in dem großen Haus war. Er ließ das Auto reparieren und bezahlte die Reparatur von seinem eigenen

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