Ueber den Horizont hinaus - Band 1
gleich.
„Brauchen wir noch eines?“, fragte Christian und zwinkerte ihm zu.
„Oh ja“, antwortete Olaf mit einem Seufzer und ließ sich in das Polster des Sofas zurücksinken.
Christian sorgte für Nachschub und nachdem sie die zweiten Flaschen jeweils bis zur Hälfte geleert hatten, nahmen sie, als wäre es selbstverständlich, die mittlerweile vertraut gewordenen Positionen ein.
Sie sahen dem Film zu, doch keiner von ihnen bekam wirklich mit, worum es in der seichten Handlung ging.
Stattdessen kuschelten sie sich zusammen, vielleicht gelöster als an den Abenden zuvor durch die Unterstützung des Alkohols, vielleicht auch nur durch das Bewusstsein, dass dieser Abend ihren vorläufigen Abschied bedeutete.
Olaf legte seinen Arm um Christian, zog ihn an sich, und der Jüngere schmolz gegen ihn, als wäre er flüssiges Wachs in Olafs Händen.
Christian umschlang den Körper des Größeren, klammerte sich geradezu an ihm fest und schmiegte seinen Kopf in die Kuhle unterhalb der Schulter. Ihre Beine wanderten auf die Sitzfläche des Sofas und umschlangen sich dort, verstrickten sich miteinander.
‚Perfekt‘, dachte Olaf und schloss erneut seine Augen. Er wollte nur fühlen, nur die Nähe, die Wärme des anderen spüren, sie aufsaugen und speichern, einen Vorrat anlegen, der ausreichte bis zu dem Moment, an dem sie sich wiedersähen.
Die Geräusche des Films verwandelten sich in unbedeutendes Rauschen im Hintergrund. Es zählte nur das Schlagen von Christians Herz, die leisen Atemzüge gegen Olafs Brust, der feine Duft, eine Mischung aus Bier und dem Geruch, der Christian zu eigen war, ohne dass Olaf ihn zuvor jemals bewusst bemerkt hatte.
‚Perfekt‘, dachte er wieder und weigerte sich an seiner Lage, an ihrer beider Handeln etwas Negatives zu erkennen, einen Grund, warum er es beenden, warum er ihrem Zusammensein den Hauch einer verbotenen Frucht verleihen sollte.
Nicht mehr als ein Abschied, nicht mehr als das natürliche Bedürfnis nach Nähe war es, das sie antrieb, das sie zueinander zog.
Und mit plötzlich auftretender Klarheit erkannte Olaf, dass ihnen beiden etwas vorenthalten worden war, das zu diesem Grundbedürfnis gehörte.
Er sah mit einem Mal, dass keiner von ihnen jemals auch nur annähernd das Maß an Nähe erhalten hatte, das sie gebraucht hätten. Er erkannte, dass seine Eltern nicht nur ihn mit Kühle gestraft, sondern auch seinem Bruder keine andere Behandlung hatten zukommen lassen.
Was war also unnatürlich oder falsch daran, dass er es zuließ, dieses Defizit zu entschärfen?
Der Film war zu schnell vorbei und dennoch standen sie beide nicht auf, verharrten beide in den Positionen, die sie zuvor eingenommen hatten.
Auf dem Fernsehschirm blieb das Menü, doch keiner von ihnen sah es. Beide hielten ihre Augen geschlossen, vereint in dem Wunsch, diesen Moment hinauszuzögern. Einen Moment, der doch früher oder später kommen musste, egal wie sehr sie ihn verdrängten.
Und er kam, der Augenblick in dem sie beide verstanden, sich zögernd voneinander lösten, sich aufsetzten, nebeneinander.
Olaf sah zu Christian, der sich die Augen rieb, das Gesicht vorgebeugt, so dass sein Haar den Ausdruck auf ihm verbarg.
Er stützte dann selbst den Kopf in die Hände, massierte langsam und mit kreisenden Bewegungen seine Schläfen, versuchte die Entschlossenheit aufzubringen, die er benötigte, um den Abend, diesen letzten Abend zu beenden.
Doch kam ihm Christian zuvor, stand als erster auf und ging mit müden Schritten zum Fernsehgerät, um es auszuschalten. Er drehte sich nicht um, als er sprach und Olaf sah nur seinen leicht vorgebeugten Rücken, die hängenden Schultern, das zu lange, dunkel glänzende Haar.
„Es ist spät. Ich geh schlafen“, murmelte Christian leise und Olaf nickte nur, ohne Rücksicht darauf, dass der andere ihn nicht sehen konnte.
Er wusste, dass Christian ihn auch so verstand, dass er keine Antwort, keine Reaktion von ihm erwartete.
Olaf blieb sitzen, als Christian den Raum verließ. Der Jüngere machte sich nicht die Mühe, sich umzublicken und Olaf dachte bei sich, dass es gut sei. Dass es für Christian nur einer von vielen Sommerabenden war, ohne Bedeutung, ohne Erinnerungswert.
Er wollte dies glauben, Olaf klammerte sich an diese Überzeugung, denn es war unmöglich anzunehmen, dass Christian etwas Anderes in ihm sehen konnte, als den großen Bruder, der kurz davor stand, eine seiner Stippvisiten zu beenden.
Olaf lauschte auf die Schritte, die
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