Ueber den Horizont hinaus - Band 1
groß an, einen verletzten Ausdruck in den Augen.
Olaf schluckte. „Wir… wir würden uns an die Kehle gehen“, sagte er dann lahm. „Und dann ist da auch noch Carola. Sie wollte in meine Nähe ziehen und…“
„Hey!“ Christian hob beide Hände, obwohl ihn das Fehlen der Stütze zum Schwanken brachte und er gezwungen war schleunigst wieder Halt zu suchen. „Ich bin ein braver Bruder. Sobald dein Mädchen auftaucht, mache ich mich unsichtbar.“
Er entließ die Luft mit einem genervten Laut aus seinen Lungen und kuschelte sich wieder an Olaf, bevor er leise weitersprach. „Ich weiß, dass sie es nicht erlauben“, sagte er dann. „Es ist nicht so, als ob ich sie nicht dauernd gefragt hätte.“
„Das hast du?“ Olaf nahm ihn wieder in seine Arme. „Und was haben sie gesagt?“
Christian zuckte mit den Schultern. „Immer dasselbe. Dass du zu viel zu tun hast, in einem Wohnheim lebst, auf einer Militärstation oder an sonst einem Ort, wo kleine Brüder nicht geduldet sind.“
Er seufzte wieder und diesmal brach es Olaf das Herz. „Doch versprich mir eins“, sagte Christian dann leise.
„Was denn?“, flüsterte Olaf zurück.
„Versprich mir, dass du es dir überlegst… wenn wir… wenn wir älter sind… wenn ich erwachsen bin. Auch wenn es nur kurz ist.“
Olaf nickte. „Ich verspreche es.“
‚Vielleicht sind diese Gefühle dann verschwunden‘, dachte er bei sich. ‚Vielleicht sind wir beide dann andere. Vielleicht können wir wirklich mehr miteinander teilen, als gelegentliche Ferientage.‘
*
Olaf hatte bereits gepackt. Der Mietwagen stand bereit. Sobald ihre Eltern einträfen, plante er aufzubrechen.
Es wurde auch allerhöchste Zeit.
Er musste sich einrichten, vorbereiten und die bestmögliche Recherche vor Ort über seinen Praktikumsplatz betreiben, die ihm möglich war.
Olaf war es in Fleisch und Blut übergegangen, sich akribisch auf seine Aufgaben vorzubereiten. Es wäre ihm nie eingefallen, sich Hals über Kopf in eine Situation zu stürzen, die er noch nicht überblickte.
Und so schwankten seine Gefühle zwischen der Erleichterung, dass Hannibal und Helena ihre Rückkehr angekündigt hatten, und dem leisen Bedauern darüber, dass dieser Sommer zu Ende gehen sollte.
Zu schnell für ihn und für Christian, viel zu schnell.
Eine Nacht noch in diesem Haus, das er nicht vermissen würde. Aber eine Nacht noch mit seinem Bruder unter einem Dach, und dass er ihn vermissen würde, diese Frage brauchte er sich nicht zu stellen.
Auch Christians Stimmung blieb den Abend lang gedrückt.
Sie hatten schweigend gegessen und sich danach einen Film angesehen. Olaf hatte keinen Einwand erhoben, als Christian zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank holte und sich selbst auch einschenkte.
Er hatte nicht die Kraft aufgebracht, Einwände zu erheben. Die Energie für eine Diskussion oder auch nur für eine brüderliche Ermahnung ging ihm ab mit der Vorstellung, dass Christian in nur wenigen Stunden Kilometer weit entfernt von ihm war, dass er keine Möglichkeit hätte, ihm etwas zu verbieten oder ihn auf die eine oder andere Weise zu beeinflussen.
Zudem war es ihr letzter Abend. Wer weiß, wann sie sich wiedersehen würden. Und wenn Christian sich auch nur ein wenig so fühlte wie er selbst, dann wäre es grausam, ihm nicht zumindest einen kleinen Trost, eine Ablenkung zu gönnen, ihm zu zeigen, dass Olaf ihn als Erwachsenen anerkannte.
Also griff er nach seinem Glas und nahm einen Schluck, ohne etwas zu sagen, als Christian es ihm gleichtat.
Olafs Augen ruhten auf dem Jüngeren, der das Getränk ein wenig zu schnell hinunterkippte. Sein dunkles Haar fiel nach hinten und Christian schloss seine Augen. Olaf starrte auf den weißen Hals, der mit den Schluckbewegungen arbeitete, als Christian das Glas auf einen Zug leerte.
Etwas in ihm wünschte sich, seine Lippen auf diesen Hals zu pressen, ihn zu schmecken und sich dann höher zu bewegen, das Kinn hinauf, bis er den Mund fände.
Olaf schloss die Augen und wand sich ab. Was stimmte nicht mit ihm?
Er tastete nach seinem eigenen Glas und leerte es ebenfalls. Als er die Augen wieder öffnete, fühlte er Christians Blick auf sich ruhen. Olaf erwiderte diesen und für einen Moment glaubte er um die dunklen Augen des anderen eine rote Umrandung wahrzunehmen, glaubte zu sehen, dass dessen Lippen leicht zu zittern begannen.
Doch dann blinzelte Christian und verzog seinen Mund zu einem Lächeln. Und Olaf, erleichtert, tat es ihm
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