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Über den Missouri

Über den Missouri

Titel: Über den Missouri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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sie auch den Fliehenden und ließ von keinem Opfer ab, ehe sie es getötet oder selbst den Tod gefunden hatte.
    Die Knaben wagten nicht zu schreien oder sich zu rühren. Nun mußte alles geschehen, wie der Große Geist es wollte.
    Der Häuptling stand noch immer an seinem Platz, von der Fackel beleuchtet, und das Ungeheuer war zu ihm herangekommen. Er hatte sich vorgebeugt; sein Auge hatte den Blick der kleinen Bärenaugen gefaßt und hielt ihn fest. Er stieß einen Ton aus. Die Bärin antwortete und brummte böse und mißtrauisch. Sie mußte schwer verletzt sein. Die Knaben erkannten an der Stelle, an der die große Bärin stundenlang mit ihrem Jungen gelegen hatte, eine Blutlache.
    Der Häuptling ließ die Arme hängen und wiegte die Schultern wie ein Bär im Gang; wieder kamen aus seinem Mund diese fremden Laute, geheimnisvoll dunkle und helle Töne, die die Knaben beim Bärentanz manchmal vernommen hatten.
    Die Bärin knurrte leiser und krallte sich am Felsen fest. Der Häuptling schwieg jetzt, aber sein Blick ließ die Augen des gewaltigen Tieres nie los. Mit den schwerfälligen Bewegungen eines Bären setzte er sich, und das Ungeheuer kam zu ihm heran. Sprach die Bärin mit ihm? Sie stieß stöhnende Töne aus. Tokei-ihto antwortete ihr.
    Sie hielt unmittelbar vor ihm. Ihr halb geöffneter Rachen stand vor der Stirn des Häuptlings; mit einem einzigen Biß könnte sie den Schädel des Menschen krachend zermalmen.
    Aber sie biß nicht zu.
    Sie ächzte, daß es den beiden lauschenden Knaben durch Mark und Bein ging. Was war das für ein Ton? Weinte die sterbende Bärin?
    Der Häuptling antwortete mit einem leisen, dunklen Brummen.
    Da wandte sich die braune Riesin, und blutend schlurfte sie mit ihren großen Tatzen über den feuchten Boden zu dem torkelnden Bärenjungen. Sie stieß es mit der Schnauze und schob es mit ihren mächtigen Pranken vorwärts. Aber es schien, daß sie selbst unsicher wurde. Sie legte sich nieder und leckte ihr Kind. Das braunfellige Junge schnupperte umher. Es hatte wohl Hunger.
    Hapedah und Tschaske rührten sich. Jetzt zum erstenmal sahen sie im flackernden Feuerschein, daß die große Bärin ein schönes, etwas flockiges Fell hatte, schimmernd vom hellen bis zum dunklen Braun. Ganz anders war es als alle Felle, die sie je gesehen hatten. Vielleicht hätten sie gern einmal darüber gestrichen.
    Das Muttertier hatte aufgehört, sein Junges zu lecken. Mit schief gehaltenem Kopf sah es zu dem Häuptling hinüber, der wieder leise Bärentöne ausstieß. Das große Tier rutschte und versuchte aufzustehen, aber es kam nicht mehr in die Höhe. Vergeblich stemmten sich seine mächtigen Tatzen ein, und seine Krallen kratzten mit einer letzten Anstrengung auf dem feuchten Felsboden. Ein roter Faden lief ihm aus dem Maul.
    Der Häuptling war aufgestanden. Er war zu dem Tier herangekommen, ohne daß es Furcht zeigte. Mit der Kraft seines Willens und einem tiefen Wissen über das Wesen des Bären, wie es kaum ein weißer und auch nicht alle roten Männer besaßen, hatte er die Feindschaft des sterbenden Tieres überwunden. Er kauerte sich nieder, und die Bärin lehnte sich an ihn wie an einen Gefährten. Die Knaben sahen, wie sich der Häuptling an eine der aufwachsenden Felsen stemmte, um nicht umgeworfen zu werden.
    Das Junge tappte umher und suchte jammernd nach Milch. Die Mutter zuckte zusammen und raffte sich halb auf, um es wieder fortzuschieben. Mit der Schnauze packte sie es und schob es zu dem Menschen, der ihre Sprache verstanden hatte.
    Wieder lief Blut aus ihrem Rachen. Mit einem unbeschreiblichen Blick der brechenden kleinen Bärenaugen nahm sie Abschied. Ihre Tatzen streckten sich, und ihr mächtiger Kopf sank zur Seite.
    Die Große Bärin war tot.
    Die Knaben wagten kaum zu atmen. Auch der Häuptling blieb still sitzen, und die Buben sahen, daß er blaß war.
    Erst nach einem langen feierlichen Schweigen erhoben sich Hapedah und Tschaske ohne Geräusch und schlichen sich mit leisen Tritten an das tote Tier heran. In einer Entfernung, die ihnen das Gefühl gebot, ließen sie sich auf dem Felsboden der spukhaft erleuchteten Halle nieder. Auch jetzt, da das Tier ohne Leben am Boden lag, erschraken sie noch einmal vor seiner Größe und den furchtbaren Pranken.
    Der Häuptling stand auf; seine Hand fuhr über das weiche Fell des großen Tieres und untersuchte die vielen blutverklebten Stellen auf der Seite, am Rücken und an der Brust.
    »Fünfzehn Kugeln haben sie getroffen«, sagte er

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