Ueber Deutschland
die Gründe dieser Verschiedenheiten in den folgenden Capiteln untersuchen, aber bevor ich zu der Prüfung der deutschen Bühne übergehe, scheinen mir einige allgemeine Bemerkungen über den Geschmack nöthig. Ich werde ihn nicht abstract, wie ein intellectuelles Vermögen betrachten, denn mehrere Schriftsteller, und insbesondere Montesquieu, haben diesen Gegenstand erschöpft; sondern bloß andeuten, warum die Begriffe vom Geschmack in der Literatur bei den Franzosen und den germanischen Völkern so sehr von einander abweichen.
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Vierzehntes Capitel. Vom Geschmack.
Diejenigen, welche Geschmack zu haben glauben, sind darauf weit stolzer, als diejenigen, welche sich Genie zutrauen. Der Geschmack in der Literatur gleicht dem guten Tone in der Gesellschaft, man betrachtet ihn als einen Beweis von Vermögen, Geburt, oder doch von Sitten und Gewohnheiten, welche damit zusammenhängen; indeß Genie in dem Kopfe eines Künstlers entstehen kann, der nie mit der guten Gesellschaft in Verhältnissen gestanden hat. In jedem Lande, wo es Eitelkeit giebt, wird der Geschmack den ersten Rang behaupten, weil er die Klassen scheidet, und ein Zeichen der Verbindung unter den Individuen der ersten Klasse ist. In jedem Lande, wo man von der Gewalt des Lächerlichen Gebrauch macht, wird der Geschmack für einen der bedeutendsten Vorzüge gehalten werden; denn er lehrt vorzüglich erkennen, was man zu vermeiden hat. Der Sinn für das Schickliche ist ein Theil des Geschmacks, er ist eine treffliche Waffe, um die Stöße zwischen den verschiedenen Arten der Eigenliebe zu pariren. Auch kann es sich ereignen, daß sich eine ganze Nation eine Aristokratie des guten Geschmacks gegen andere anmaßt, und sie die einzige gute Gesellschaft in Europa ausmacht, oder auszumachen glaubt; dies läßt sich auf Frankreich anwenden, wo der Gesellschaftsgeist in so außerordentlichem Grade herrschte, daß es wegen dieses Ausspruches wohl Entschuldigung verdiente.
Allein der Geschmack in seiner Anwendung auf die schönen Künste, unterscheidet sich gar sehr von dem Geschmacke in seiner Anwendung auf die gesellschaftlichen Sitten. Wenn es darauf ankommt, die Menschen zu zwingen, daß sie uns eine Achtung zugestehen, welche so vorübergehend wie unser Leben ist; so ist das, was man unterläßt, eben so nothwendig, als das, was man thut: denn die große Welt wird so leicht feindlich gesinnt, daß es außerordentlicher Annehmlichkeiten bedarf, wenn sie den Vorzug aufwiegen sollen, Niemanden in irgend Etwas eine Blöße zu geben. Hingegen der Geschmack in der Poesie hängt mit der Natur zusammen, und muß schöpferisch werden wie sie; die Grundsätze dieses Geschmacks sind daher ganz andere als diejenigen, welche von den gesellschaftlichen Verhältnissen abhangen.
Die Vermischung dieser beiden Gattungen ist die Ursache so entgegengesetzter Urtheile in der Literatur. Die Franzosen beurtheilen die schönen Künste wie Verhältnisse des Anstandes, und die Deutschen die Verhältnisse des Anstandes wie schöne Künste. In den Beziehungen zur Gesellschaft muß man sich vertheidigen, in den Beziehungen zur Poesie muß man sich hingeben. Betrachtet man Alles als Weltmann, so fühlt man die Natur nicht; betrachtet man Alles als Künstler, so muß einem der Takt entgehen, den die Gesellschaft allein verleihen kann. Brauchte man in die Kunst nur die Nachahmung der guten Gesellschaft überzutragen, so wären ihrer die Franzosen einzig fähig; allein es bedarf mehr Freiheit in der Komposition, um Gemüth und Einbildungskraft lebhaft aufzuregen. Ich weiß wohl, daß man mir mit Recht einwenden kann, unsere drei großen Tragiker hätten sich, ohne die eingeführten Regeln zu verletzen, bis zur äußersten Höhe erhoben. Freilich haben sich einige Männer von Genie, da sie auf einem ganz neuen Felde zu erndten hatten, trotz der Schwierigkeiten, welche sie besiegen mußten, berühmt gemacht; allein beweist die Hemmung der Fortschritte in der Kunst nach ihnen nicht, daß es auf dem Wege, den sie eingeschlagen hatten, zu viele Schranken giebt? –
»Der gute Geschmack in der Literatur ist in gewisser Hinsicht, wie die Ordnung unter dem Despotismus; es ist wichtig zu untersuchen, um welchen Preis man ihn erkauft.« [Diese Stelle ist von der Censur gestrichen worden.]
Im Politischen, sagte Herr Necker, muß alle Freiheit herrschen, welche mit der Ordnung verträglich ist. Ich würde den Grundsatz umkehren, indem ich behauptete: In der Literatur
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