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Ueber Deutschland

Titel: Ueber Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germaine de Staël
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muß jeder Geschmack Statt finden, der mit dem Genie sich vereinigen läßt. Denn so wie in dem gesellschaftlichen Zustande das Wichtigste die Ruhe ist, so ist das Wichtigste in der Literatur das Interesse, die Bewegung, Rührung, gegen welche der Geschmack an und für sich allein oft sich als Feind beträgt.
    Es ließe sich wohl ein Friedenstraktat in Vorschlag bringen zwischen den verschiedenen Ansichten, den künstlerischen und den weltgemäßen, bei den Deutschen und den Franzosen. Die Franzosen sollten sich enthalten, selbst einen Fehler gegen die Sitten der Gesellschaft zu verdammen, sobald er eine starke Idee, oder ein wahres Gefühl zur Entschuldigung hätte; die Deutschen sollten sich alles untersagen, was den natürlichen Geschmack beleidigt, was Bilder in der Phantasie aufregt, welche die Empfindung zurückstößt: keine philosophische Theorie, so sinnreich sie auch seyn mag, wird Etwas gegen das Widerstreben der Empfindung vermögen, so wie keine konventionelle Poetik unwillkührliche Rührungen wird verhindern können. Vergebens werden die geistreichsten deutschen Schriftsteller behaupten, daß, um das Benehmen der Töchter des Königs Lear gegen ihren Vater zu begreifen, man die Barbarei der Zeiten darstellen müsse, in denen sie lebten, und daher dulden, daß der Herzog von Cornwallis, von Regan aufgereizt, auf dem Theater Glocesters Auge mit der Verse austrete; unsre Einbildungskraft wird sich stets gegen dieses Schauspiel auflehnen, und verlangen, daß man auf andern Wegen zu großen Schönheiten gelange. Allein die Franzosen mögen auch die ganze Schärfe ihrer Kritik gegen die Prophezeihungen von Macbeths Hexen, gegen die Erscheinung von Banko's Geist u.s.w. richten; deshalb wird man doch um nichts minder durch die furchtbaren Wirkungen, welche eine solche Kritik verbannen will, bis ins Innerste der Seele gerührt werden.
    Der gute Geschmack in den Künsten läßt sich nicht lehren, wie der gute Ton in der Gesellschaft: denn der gute Ton dient dazu, daß man verbirgt, was einem fehlt, indeß in den Künsten vor allen ein schöpferischer Geist erfordert wird; der gute Geschmack kann in der Literatur nicht die Stelle des Talents vertreten: denn der beste Beweis von Geschmack ist, nicht zu schreiben, wenn man kein Talent hat. Aufrichtig gesprochen, wird man vielleicht finden, daß es gegenwärtig in Frankreich zu viel Zügel giebt für so wenig feurige Renner, und daß in Deutschland viel literarische Unabhängigkeit noch keine hinlänglich glänzende Resultate erzeugt.
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Zweiter Theil.
I. Abtheilung. Literatur und Kunst  (Fortsetzung.)
Fünfzehntes Capitel. Dramatische Kunst.
    Das Theater übt eine große Herrschaft über die Menschen aus. Ein Trauerspiel, das die Seele erhebt, ein Lustspiel, das Sitten und Charactere schildert, wirkt auf das Gemüth des Volks fast eben so stark als eine wirkliche Begebenheit; aber um für die Bühne mit großem Erfolge schreiben zu können, muß man das Publikum studirt haben, für das man arbeitet, und die Motive aller Art kennen, auf welche es seine Meinung stützt. Die Menschenkenntniß ist dem dramatischen Schriftsteller eben so unentbehrlich als die Einbildungskraft; ohne die besondern Verhältnisse aus den Augen zu lassen, welche in die Zuschauer eingreifen, muß er sich zu Gefühlen von allgemeinem Interesse erheben. Ein Theaterstück ist die handelnd aufgestellte Literatur: und das dazu erforderliche Genie nur deswegen so selten, weil es aus dem Auffassen der Umstände und der poetischen Begeisterung wunderbar zusammengesetzt seyn muß. Nichts wäre folglich ungereimter, als allen Nationen hier dasselbe System zur Bedingung machen zu wollen; wenn es darauf ankommt, die allgemeine Kunst dem Nationalgeschmack, die unsterbliche Kunst den Sitten der Zeit anzupassen, so sind wesentliche Nebenbestimmungen und Abweichungen unvermeidlich: daher die vielen verschiedenen Meinungen über das Wesen des dramatischen Talents; in allen übrigen Zweigen der Literatur herrscht weit mehr Uebereinstimmung im Geschmack.
    Es läßt sich, dünkt mich, nicht leugnen, daß, unter allen Nationen, die Französische die meiste Gewandtheit in der Zusammenstellung der theatralischen Effecte besitze; ihr gebührt ebenfalls vor allen andern, der Vorzug der Würde in den Situationen und der Haltung im tragischen Stil. Aber, selbst wenn wir ihr diesen doppelten Vorzug einräumen, fühlen wir, daß minder vollkommen geordnete dramatische Werke tiefer erschüttern

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