Über Gott und die Welt
die
»Barbaren« drängen, die nicht zwangsläufi g unkultiviert sein müssen, aber neue Sitten und Weltanschauungen mitbringen.
Diese Barbaren können gewaltsam eindringen, um sich eines Reichtums zu bemächtigen, der ihnen bisher verwehrt war; oder sie können langsam in den sozialen und kulturellen Körper der herrschenden Pax einsickern und dabei neue Glaubensformen und Lebensperspektiven verbreiten. Als das römische Reich zu zerfallen begann, war es nicht von der christlichen Ethik unterminiert; es hatte sich selber unterminiert, indem es synkretistischerweise sowohl die alexandrinische Hochkultur als auch die orientalischen Mithras- oder Astarte-Kulte aufnahm, indem es mit der Magie herumspielte, mit den neuen Sexualethiken, mit verschiedenen Heilsbildern und Erlösungshoffnungen. Es hatte sich neue Rassenelemente einverleibt, es hatte unter dem Druck der Verhältnisse viele starre Klassentrennungen aufgehoben, es hatte die Unterschiede zwischen Bürgern und Nichtbürgern, zwischen Patriziern und Plebejern verringert, es hatte zwar die Verteilung der Reichtümer aufrechterhalten, aber die der Funktionen und sozialen Rollen durchlässiger gemacht, und es hatte auch gar nicht anders gekonnt. Es hatte rasche Akkulturationsphänomene erlebt, es hatte Männer an die Regierung gelassen, die zweihundert Jahre vorher noch als rassisch minderwertig gegolten hätten, es hatte zahlreiche Theologien entdogmatisiert. Im selben Augenblick konnten die Herrschenden zu den klassischen Göttern beten, die Soldaten zu Mithras und die Sklaven zu Jesus. Instinktiv verfolgte man zwar den Glauben, der auf lange Sicht am tödlichsten für das System erschien, doch in der Regel herrschte durchaus eine große repressive Toleranz, die alles an- und aufzunehmen erlaubte.
Der Zerfall des Großen Friedens (der militärischen und zivi-len, sozialen und kulturellen Pax Romana) eröffnete zwar eine Zeit ökonomischer Krisen und politischer Machtkarenzen, aber nur eine berechtigte antiklerikale Reaktion hat uns das »fi nstere Mittelalter« so fi nster zu sehen erlaubt; faktisch war auch das frühe Mittelalter vor der Jahrtausendwende (vielleicht sogar mehr als das spätere) eine Zeit enormer geistiger Vitalität voll faszinierender Dialoge zwischen barbarischen Zivilisationen, römischem Erbe und christlich-orientalisch geprägten Fermenten, eine Zeit der Reisen und der Begegnungen (mit den irischen Mönchen, die kreuz und quer durch Europa zogen und Ideen verbreiteten, Lesekenntnisse förderten, allen möglichen Unsinn erfanden …).
Kurzum, hier wuchs der moderne abendländische Mensch heran, und in diesem Sinne kann das Modell eines Mittelalters uns nützen, zu begreifen, was heutzutage geschieht: Im Zerfall eines Großen Friedens kommt es zu Krisen und Unsicherheit, verschiedene Zivilisationen stoßen zusammen, und langsam entsteht das Bild eines neuen Menschen. Es tritt erst später in voller Klarheit zutage, aber die Grundzüge sind schon da und brodeln in einem dramatischen Kessel. Boethius, der Pythagoras unter die Leute bringt und Aristoteles nachliest, wiederholt nicht einfach nur sklavisch die Lektion der Vergangenheit, sondern erfi ndet eine neue Art, Kultur zu betreiben, und während er sich als der letzte Römer gebärdet, gründet er faktisch die erste Studienstätte am Hof der Barbaren.
3. Krise der Pax Americana
Daß wir heute die Krise der Pax Americana erleben, ist mitt-lerweile Gemeinplatz der kritischen Zeitgeschichte. Es wäre kindisch, die »neuen Barbaren« in ein präzises Bild fi xieren zu wollen, schon wegen des negativen und irreführenden Klanges, den der Ausdruck »Barbaren« noch immer in unseren Ohren hat. Sind es die Chinesen oder die Völker der Dritten Welt, die protestierenden Jugendlichen oder die »Gastarbeiter« beziehungsweise, in einem Land wie Italien, die Immigranten aus dem Mezzogiorno, die in Turin ein neues Piemont erzeugen, das niemals zuvor existiert hat? Und drängen sie nur an den Grenzen (wo sind die Grenzen?), oder sind sie bereits im Innern des sozialen Körpers am Werk? Andererseits, wer waren die Barbaren in den Jahrhunderten der Dekadenz des Römischen Reiches?
Die Hunnen, die Goten oder die asiatischen und afrikanischen Völker, die mit ihrem Handel und ihren Religionen mehr und mehr auch die Zentrale des Reiches erfaßten? Das einzige, was mit Sicherheit damals verschwand, war die Figur des klassischen Römers, so wie heute der klassische Liberale verschwindet, der Unternehmer
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