Ueber Gott und die Welt
auf der Schwäbischen Alb. Ich war elf Jahre alt und kannte bisher kein Landleben. Nach den Ferien musste ich einen Schulaufsatz über die Ferien schreiben. Ich schrieb über die erste Begegnung mit diesem Leben, und mir ist dieser Aufsatz in Erinnerung als mein erstes nach meinen eigenen Maßstäben gelungenes Stück Poesie. Ich versuchte, etwas von der Schönheit einer Welt wiederzugeben, die mir im Rückblick als letzte Präsenz eines jahrtausendealten bäuerlichen Lebens erscheint, die letzte Präsenz einer Welt, die es definitiv in unserem Land nicht mehr gibt.
Zwei Jahre später nahm ich für ein halbes Jahr an diesem einfachen Leben teil, arbeitete beim Bauern, erhielt vom Dorflehrer und vom Pfarrer für die ausgefallene Schulzeit Privatunterricht in Mathematik und Latein. Fürs Griechische musste ich jede Woche zwei Stunden zu einem jungen Pfarrer eines anderen Dorfes laufen. Im Winter ließ er mich bei sich übernachten. Ich feierte die Feste und Sonntage des Dorfes mit, organisierte mit Gleichaltrigen eine Theatergruppe.Am Wochenende amüsierten wir die Dorfleute in einer Scheune mit unseren kleinen Sketchen.
Ich bilde mir ein, dass das Hayinger »Naturtheater«, das heute in der ganzen Region bekannt ist, auf diese kleine Initiative zurückgeht. Die Hayinger Buben hatten einfach Geschmack am Theaterspielen gefunden. Und die Sonntage! An den Sonntagen gackerten sogar die Hühner anders als werktags. Alles war anders. Zur Messe ging fast das ganze Städtchen. Die Männer allerdings blieben vor der Kirche stehen und plauderten, bis die Predigt vorüber war, und die heilige Handlung begann. Im Sommer verkündete der Pfarrer von der Kanzel eine allfällige Dispens vom Verbot der Sonntagsarbeit, wenn aufgrund der Wetterverhältnisse Eile beim Ernten geboten war. Dass der Pfarrer darüber entschied, hatte den Vorteil, dass die Gemeinde sich nicht spaltete in die Frommen und die weniger Frommen und den Leuten Gewissenskonflikte erspart blieben.
Und bis jetzt bleibt für mich die Erinnerung an eine untergegangene Welt. Jeder hatte in ihr seinen Platz. Da waren die beiden armen Frauen, die sich die Ähren lesen mussten für das tägliche Brot. Der Bauer, dem ich bei der Ernte half, wies mich an, beim Zusammenrechen der Ähren genug für diese Frauen liegenzulassen. Da war der alte, von Geburt blinde Aurele, den seine ledige Schwester zu Hause versorgte und dem ich manchmal etwas vorlas. Manchmal führte ich ihn auf den Kirchturm, wo ihn das Klappern der Glockenapparatur vor dem Stundenschlag in immer neues Entzücken versetzte. Ich sehe ihn noch vor mir, die Hände reiben und in sich hineinkichern. An Jahrmarktstagen putzte ihn seine Schwester heraus mit dem Sonntagsstaat samt Krawatte fürs Betteln mit Hinhalten des Hutes. Seine großen Augenblicke waren Todesfälle. Ich erinnere mich an den Tod eines Schäfers, der vom Blitz erschlagen wurde. Drei Tage lang versammeltensich das Dorf und die Schäfer der umliegenden Dörfer zum Rosenkranzgebet in der Friedhofskapelle, und Aurele waltete seines Amtes als Vorbeter. Und da war die ehemalige Spielkameradin meiner Mutter, die als Kind mit ihrer Mutter in Hayingen Ferien machte – eine schöne Frau, sie und ihre Schwester ledige Töchter der hochangesehenen Inhaberin des Gasthauses »Bierhalle«. Da war der junge ledige Bauer mit seinen zwei Kühen, der jeden Abend vor seiner Haustür saß und Französisch lernte, und zwar mit einem Wörterbuch und ohne je etwas von Grammatik oder Ausspracheregeln erfahren zu haben. Sein großer Augenblick schien gekommen, als die französischen Kriegsgefangenen ins Städtchen kamen. Aber leider erwies sich, was er gelernt hatte, als völlig ungeeignet für irgendeine sprachliche Kommunikation.
Und da waren diese Kriegsgefangenen, die anstelle der eigenen Söhne bei den Bauern arbeiteten und dort auch wie die eigenen Söhne gehalten wurden. Manche besuchten sie nach dem Krieg ihre damaligen »Gastfamilie«. Ich habe, was Marx die »Idiotie des Landlebens« nennt, für eine kurze Zeit mitgelebt. Hätte ich wirklich dazugehört, so hätte es mich bald in die Welt hinausgetrieben. Aber ich hätte auch gewusst, wohin ich gehen müsste, wenn ich nach Hause wollte.
Diese Welt ist nicht mehr. Und besser der Untergang als die museale Perpetuierung. Der in der »Ritter-Schule« – vor allem von meinem Freund Hermann Lübbe – gepflegte Gedanke blieb mir fremd, ja zuwider, auch die Musealisierung sei eine volle und legitime Weise der
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