Ueber Gott und die Welt
Gerleve. Genauer gesagt: Sie sangen überhaupt nicht schön.
Gab es in Ihrer Jugend jemals so etwas wie eine Versuchung, mit der »neuen Zeit« zu gehen?
Ich komme auf das Wichtige und Unwichtige zurück. Wenn man tief überzeugt ist, dass das ewige Leben, dass die Gottesbeziehung das Wichtigste im Leben ist, dann erzeugt das eine gewisse Standfestigkeit, eine Haltung, die einem ein weltliches liberales Elternhaus, wie ich meine, kaum vermitteln kann. Ich habe das um mich herum gesehen. Eltern hielten ihre politische Reserve gegenüber dem Regime vor ihren Kindern geheim, um ihnen Loyalitätskonflikte zu ersparen. So etwas lag meinen Eltern vollkommen fern. Wo die Alternative so abstoßend ist wie der Nationalsozialismus, da entsteht kein echter Konflikt. Eine Versuchung ist eigentlich nie ernstlich zu mir gedrungen. Da vielleicht mitzumachen kam schon deswegen nicht in Frage, weil für mich das Regime in seiner Verachtung der 2000-jährigen europäischen Gesittung zu abstoßend war. Ein anderer Grund war die Art und Weise, wie man die Juden behandelte. Das war so widerlich, dass es keiner besonderen Leistung, keiner Anstrengung bedurfte, um sich davon abzuwenden. Es gab wohl Momente, in denen ich kurz so etwas wie Stolz empfand, etwa als die deutschen Truppen in sechs Wochen die Franzosen zur Kapitulation zwangen. Das hat in jedem Deutschen kurz den Reflex ausgelöst: Donnerwetter, das ist schon toll. Aber dann kam bei mir sofort der Gedanke: Wenn das so weitergeht, verewigt das dieses Regime. Für mich war eben der Sieg Deutschlands untrennbar verbunden mit dem Sieg Hitlers. Das Gefühl des Stolzes verwandelte sich schnell in Niedergeschlagenheit.
Wie haben Sie die Bombenangriffe erlebt?
Ich habe das brennende Köln erlebt, kurz bevor wir 1942 nach Dorsten zogen. Wenn man jung ist, kann man nicht zwei Feinde haben. Man braucht klare Freund-Feind-Verhältnisse:Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde. Darum habe ich die alliierten Bomber nicht als Feinde betrachtet. Ich habe das alles Hitler in die Schuhe geschoben und erst viel später eingesehen, dass es sich da um kapitale Kriegsverbrechen handelte und dass die Verantwortlichen dafür eigentlich schwerste Strafen verdient hätten. So zu denken lag mir damals fern. Im Keller zitterte ich natürlich um mein Leben, aber in Augenblicken, als gerade mal keine Bomben fielen, keine Flakgeschütze dröhnten, hörte ich einen Chor von Nachtigallen. Es war Mai. Sie haben mich getröstet. Ich sagte mir: Die werden sie nicht zum Verstummen bringen. Der Hitler kann nichts machen, und die Bomber können nichts machen. Wir werden vielleicht in zwei Minuten alle tot sein, aber die Nachtigallen werden weiter singen. Dass man auch sie zum Schweigen bringen kann, überstieg meine damaligen Horrorvisionen.
ICH WÄRE GÄRTNER GEWORDEN …
Mein Leben war und ist reich an schönen Augenblicken. Was der schönste Augenblick war, kann ich nicht sagen. Außerdem ginge es niemanden etwas an.
Der dunkelste aber war ein öffentlicher Augenblick: die Zeitungsnachricht am 21. Juli 1944 vom gescheiterten Attentat auf Hitler. Die Befreiung vom Tyrannen hatte also vor der Tür gestanden, und nun hieß es, alle Hoffnung fahren lassen. Würde sich das Reich des Bösen tatsächlich über ganz Europa ausdehnen und unsere Zukunft bestimmen?
Meine Absichten für diesen Fall standen schon fest. Ich wollte Gärtner werden. In der Universität – mit NS-Studen tenbund oder gar NS-Dozentenbund – wäre für mich keinPlatz. Gärtner braucht man immer. An der vegetativen Natur endet der politische Totalitarismus.
Mein Vater aber, ein frommer Mann, nahm mich beiseite und schlug vor, etwas zu tun, das er sonst nie getan hatte, was aber fromme Leute in der Vergangenheit öfter taten: die Bibel auf gut Glück aufschlagen und mit dem Stift blindlings auf einen Satz tippen. Mein Vater schlug auf, ich tippte. Der Satz, auf den wir stießen, Kap. 16, Vers 20 des Römerbriefs lautet: »Der Gott des Friedens wird den Satan in Bälde unter euren Füßen zertreten.« Ich glaubte dem Orakel nur zu gern. Es passte zu meiner tief verwurzelten Sicht der Dinge: Le pire n’est pas toujours sûr. Dann war der Heldentod der Attentäter vielleicht doch nicht vergeblich. Und wenn vergeblich, so doch nicht sinnlos. Er rettete die Ehre meines Vaterlandes, das ich liebte und für das ich mich schämte – patriotische Gefühle, die meinem Vater eher fremd waren.
Wenige Tage später hörte ich den Direktor meines
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