Ueber Gott und die Welt
Präsenz der Herkunft. So konnte ich mich nach dem Krieg in Münster nicht mit dem Wiederaufbau des Marktplatzes zwischen Rathaus und Lamberti-Kirche anfreunden. Die Giebelhäuser, die wieder erstanden, waren eben doch, wenn man genauer hinsah, nur Attrappen. Die riesigen Schaufenster lockten in Geschäfte,deren größter Teil gar nicht mehr unter dem Dach Platz hatte, sondern aus den Häusern, ohne dass man das unmittelbar wahrnahm, hinten wieder herausquoll. Ich war dagegen Partei für das neue Stadttheater, das vom alten zerstörten keine Reminiszenz aufbewahrte außer, als Zitat, der Ruine der alten Mauer im Innenhof.
Mein Plädoyer für die Moderne wurzelt in der Verehrung des Untergehenden. Tief bewegt hat mich immer das Motiv, mit dem die Athener ihre Demokratie begründeten. Der letzte König, Kodros, hatte sein Leben für Athen geopfert, und niemand wurde für würdig erachtet, sein Nachfolger zu sein. Es ist für mich die schönste Begründung der Demokratie, die ich kenne.
Zur Musealisierung eine schöne Geschichte. Grünewalds Stuppacher Madonna war vor wenigen Jahren von der Gemeinde Stuppach – nicht ohne Widerstand und Bedenken – für einige Wochen an die Stuttgarter Staatsgalerie ausgeliehen und an prominenter Stelle aufgehängt worden: so eine Art Stuttgarter Mona Lisa. Kurze Zeit nach ihrer Aufhängung im Museum kam eine Abordnung der Gemeinde Stuppach und ließ sich vom Direktor »ihre« Madonna zeigen. Der Direktor geriet in eine Mischung von Verlegenheit und Rührung, als die Besucher sich spontan niederknieten und ein Marienlied sangen.
Ähnlich hatte Papst Paul VI. sich im Juli 1967 zum Entsetzen seiner laizistischen türkischen Begleitbeamten am Eingang der zum Museum gewordenen Hagia Sophia in Konstantinopel vor dem Christusmosaik niedergekniet, gebetet und so dem Bild für einige Minuten seine wahre Bestimmung zurückgegeben.
Die früheste Erinnerung an eine schmerzlich wahrgenommene Musealisierung war ein Besuch bei meinem Onkel in Nürnberg, der mich durch die schöne alte Stadt führte undmir zu den gesehenen Dingen viel zu erzählen wusste. Was mich aber abstieß und mir den Besuch fast verleidete, waren die Schildchen, die an den alten Häusern und Monumenten angebracht waren und den Touristen über Herkunft, Bestimmung und Geschichte des jeweiligen Gebäudes informierten. Diese Schildchen verdarben mir die Freude. Sie erschienen mir wie lauter Anführungszeichen, mit denen die Stadt sich selbst einklammerte. Wer wissen will, wer dieses Haus einmal bewohnte oder welchem Zweck es diente, der sollte es sich erzählen lassen, so dachte ich, eben wie ich von einem Onkel, oder aber er konnte es in einem Stadtführer nachlesen. Mir schienen diese Häuser in gewisser Weise schon zerstört, ehe sie einige Jahre später von den Bomben real vernichtet wurden.
So schrieb Proust einmal, dass er die Kathedralen Frankreichs lieber zerstört sähe als ihrem gottesdienstlichen Zweck entfremdet. Schafft museale Vergegenwärtigung Gegenwart? Die Frage stellt sich mir auch, wenn ich die Musikberieselung in französischen Kathedralen über mich ergehen lassen muss. Nachdem man aus dem Gottesdienst den gregorianischen Choral rigoros eliminiert hat, soll nun die Gregorianik aus der Konserve eine gewisse weihevolle Stimmung erzeugen, die sich mit diesem Gesang verbindet. Ich empfinde diese »Virtualisierung« als blanken Hohn.
So empfand ich schon als Kind, ohne diesem Empfinden Ausdruck geben zu können. Vollkommen ausgedrückt fand ich das, was ich von früh auf empfand, als ich im Zusammenhang mit meinem Buch über de Bonald Charles Péguys Kritik am Antimodernismus der französischen Konservativen las. Für Péguy waren die Leute der Französischen Revolution noch Menschen des alten Frankreich, weil sie an Gerechtigkeit glaubten, weil sie überhaupt glaubten. Modernismus aber definierte Péguy als »nicht glauben, was man glaubt«;Funktionalisierung aller unmittelbaren Überzeugungen für politische Zwecke.
Als Modernist ist mir dann später Richard Rorty erschienen mit seiner entschiedenen Absage an so etwas wie »Wahrheit« und seiner Definition eines heute allein möglichen Bildungsziels: Ironie, ein ironisches Weltverhältnis. Die Setzung der »Welt« in Anführungszeichen. Und daraus folgt, was der gegenwärtige Papst als »Tyrannei des Relativismus« bezeichnet.
Es gibt eine unscheinbare, penetrante Unart, die in unserem Land offenbar alle als intellektuell geltenden Menschen ergriffen
Weitere Kostenlose Bücher