Über Himmel und Erde: Jorge Bergoglio im Gespräch mit dem Rabbiner Abraham Skorka - Das persönliche Credo des neuen Papstes (German Edition)
verdeckte Sterbehilfe gibt. Dem Kranken muss man das Übliche und Notwendige geben, damit er leben kann, solange es Hoffnung auf Leben gibt. Im Endstadium sind lebensverlängernde Maßnahmen jedoch nicht verpflichtend. Mehr noch, selbst wenn es Hoffnung auf Leben gibt, sind solche Maßnahmen nicht verpflichtend, zum Beispiel jemanden zu intubieren, nur um sein Leben ein paar Tage zu verlängern.
Skorka : Der Talmud würde sagen: Lebensverlängernde Maßnahmen zu ergreifen bedeutet, dass man jemanden nicht sterben lässt. Wenn jemand lebensfähig ist, dann soll man alles tun, damit er weiterlebt. Aber wenn jemand keine Gehirnaktivitäten mehr aufweist, wenn absolut sichergestellt ist, dass im Gehirn keine Lebenszeichen mehr vorhanden sind, dann sollte man die Apparate vorsichtig abschalten. Ich bin strikt gegen lebensverlängernde Maßnahmen. Die Überlieferung, die das jüdische Recht enthält, die Halacha, sagt, dass es zulässig ist, bei jemandem, dessen Leben zu Ende geht, alles wegzulassen, was den Moment des Todes hinauszögert. Das heißt: Wenn ein Kopfkissen verhindert, dass jemand stirbt, nimm es weg; wenn er Salz unter der Zunge hat, hol es heraus. Aktive Sterbehilfe und lebensverlängernde Maßnahmen: Das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Wenn man nichts mehr tun kann, darf man keine Medikamente geben, die das Leben künstlich verlängern. Ich habe größten Respekt, wenn jemand sagt, dass man alles tun muss, um die Lebenskraft zu erhalten. Aber wenn man sicher weiß, dass ein Patient so oder so sterben wird, sollte man ihn in seinen letzten Stunden nicht unnötig quälen. Es hat keinen Sinn, einem Sterbenden eine Transfusion zu verabreichen oder ihn künstlich zu beatmen, nur um ihn 24 Stunden länger am Leben zu erhalten. Wenn jemand leidet, muss man ihm ein Beruhigungsmittel geben, Medikamente, die das Atmen erleichtern, mehr nicht. Man ehrt das Leben nicht, indem man das Sterben eines Patienten unnötig hinauszögert.
Bergoglio : Der katholischen Moral nach ist niemand verpflichtet, eine außergewöhnliche Maßnahme zu nutzen, um gesund zu werden. Es geht darum, kein Leben zu erhalten, von dem man weiß, dass es bereits kein Leben mehr ist. Solange die Möglichkeit besteht, die Krankheit umzukehren, tut man alles, was man kann; außergewöhnliche Maßnahmen sollte man jedoch nur einsetzen, wenn es Hoffnung auf eine Genesung gibt.
14. Über Abtreibung
Bergoglio : Das moralische Problem der Abtreibung ist vorreligiöser Natur, denn im Moment der Empfängnis ist der genetische Code der Person vorhanden. Damit ist es schon ein Mensch. Ich trenne das Thema Abtreibung von jeglicher religiöser Auffassung. Es ist ein wissenschaftliches Problem. Nicht zuzulassen, dass die Entwicklung eines Wesens, das schon den gesamten genetischen Code eines Menschen hat, weitergeht, ist nicht ethisch. Das Recht auf Leben ist das erste Menschenrecht. Abtreiben heißt, jemanden zu töten, der sich nicht wehren kann.
Skorka : Das Problem unserer Gesellschaft heute ist, dass sie weithin den Respekt vor der Heiligkeit des Lebens verloren hat. Das fängt schon damit an, dass von Abtreibung gesprochen wird, als handelte es sich um eine Lappalie, um etwas völlig Normales. Das ist aber nicht so. Selbst im Zellstadium: Wir sprechen hier von einem menschlichen Wesen. Daher verdient das Thema eine besonders behutsame Diskussion. Stattdessen meint alle Welt, ihre Meinung kundtun zu müssen, ohne wirklich informiert zu sein. Grundsätzlich verurteilt das Judentum die Abtreibung, aber in manchen Situationen ist sie erlaubt; zum Beispiel, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen abgetrieben werden darf. Interessant ist aber, dass die alten jüdischen Rechtsgelehrten die Abtreibung in der Diaspora absolut verboten, nachdem sie die Gesetze der Völker studiert hatten, sozusagen das Ius gentium im Talmud. Meine Interpretation lautet: Weil sie wussten, was in Rom vor sich ging, wollten sie vermeiden, sich in einer Gesellschaft, in der das Leben nicht viel zählte, in eine Diskussion über die Möglichkeit einer Abtreibung einlassen zu müssen. Im Talmud wird auch das Thema Todesstrafe erschöpfend abgehandelt. Sie taucht zwar in der Tora auf, aber viele Rechtsgelehrte wollen sie so sehr eingeschränkt sehen, dass sie praktisch nicht mehr zur Anwendung kommt, während andere mit guten Argumenten eine nicht ganz so restriktive Haltung einnehmen. So wird jede Generation im Einklang mit ihrer Zeit
Weitere Kostenlose Bücher