Über Himmel und Erde: Jorge Bergoglio im Gespräch mit dem Rabbiner Abraham Skorka - Das persönliche Credo des neuen Papstes (German Edition)
neu bestimmen, wie dieses Thema zu handhaben ist. Und ähnlich ist es mit dem Thema Abtreibung. Natürlich lehnt das Judentum Abtreibung strikt ab, außer eben in dem eindeutigen Fall – wie auch in der Mischna erläutert –, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist. Dann geht ihr Leben vor. In allen anderen Fällen – Vergewaltigung, Föten mit Anenzephalie usw. – muss dieses Thema in jeder Generation neu verhandelt werden. Aber ob man nun eine besonders strenge oder eher nachgiebige Haltung einnimmt, eines muss klar sein: Heiligkeit – verstanden als Höchstmaß an Respekt und Rücksicht für das menschliche Leben in allen seinen Formen – ist dabei der wesentliche Faktor, muss die Grundlage bilden, auf der dieses Thema diskutiert und analysiert wird.
18. Über Schule und Erziehung
Skorka : Religion ist eine Weltanschauung. Und Erziehung heißt, eine Weltanschauung weiterzugeben. Religion und Erziehung sind also eng miteinander verknüpft. Wenn wir betrachten, wie sich unterschiedliche Kulturen herausbilden, sehen wir zweierlei: Zum einen ist da der technische Fortschritt; zum anderen das Entstehen von Werten, die das Zusammenleben der jeweiligen Völker bestimmen. Kultur ist im Grunde genommen die Antwort auf drei Fragen: Was ist der Mensch? Was ist die Natur? Was ist Gott? Daher müssen diese Fragen und die Antworten, die Religionen darauf geben, unbedingt auf dem Lehrplan stehen. Jemand könnte einwenden, dass in einer Demokratie das ganze Spektrum gelehrt werden muss, nicht nur ein Teil. Richtig, deshalb bin ich auch nicht einverstanden mit der Art von Religionsunterricht, wie er früher an öffentlichen Schulen abgehalten wurde.
Bergoglio : Ich bin auch nicht mit einem Religionsunterricht einverstanden, der eine Diskriminierung der Nicht-Katholiken vorsieht. Hingegen glaube ich wohl, dass Religion zum Unterrichtsstoff in der Schule gehören sollte, als ein weiteres Element in der in den Klassenzimmern angebotenen Bandbreite. Mir kommt es diskriminierend vor, dass nicht von Religion gesprochen wird, dass die religiöse Sicht auf das Leben und die geschichtlichen Ereignisse nicht unterrichtet wird, wie man es mit anderen Fächern macht.
Skorka : Ich bin ganz Ihrer Meinung. Wenn man der Religion die Möglichkeit nimmt, bei der Erziehung eine Rolle zu spielen, dann nimmt man ihr sehr viel. Natürlich ist die religiöse Unterweisung im Detail eine Sache der Pfarrei oder Gemeinde. Das Judentum beruht auf der Annahme – die später auch der Islam und das Christentum entwickelt haben –, dass der Mensch die Krone der Schöpfung ist, weil er das einzige Wesen ist, das sich über seine Instinkte erheben kann. Und hier liegt auch die Aufgabe des Religionsunterrichts: immer wieder auf diese herausragende Fähigkeit des Menschen hinzuweisen. Das öffentliche Schulsystem braucht den Religionsunterricht, denn die Vermittlung von Werten ist seine dringlichste Aufgabe. Da, wo Gott ins Spiel kommt, rückt der Mensch aus dem Zentrum heraus. Wenn Gott keine Rolle spielt, gelangen die Kinder zu dem Schluss, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist. Sobald die Religion eingeführt ist, kann man viele Themen ganz anders beleuchten. Was ist die Sexualerziehung? Nur die Information über anatomische und physiologische Gegebenheiten? Oder sollen im Wesentlichen Werte vermittelt werden? Natürlich müssen die Schüler wissen, was anatomisch und physiologisch geschieht, aber dieses Wissen muss immer mit Werten einhergehen, anhand derer sie entscheiden können, was sie mit ihrer Sexualität anfangen wollen. Sexualität sollte immer ein Ausdruck tiefer Liebe sein. Ich hätte gern, dass Schüler bei diesem Thema erfahren, was das Judentum zu sagen hat. Oder das Christentum. Oder der Islam. Dass sie lernen, was diese Religionen gemeinsam haben. Wenn wir das Feld der Erziehung kampflos räumen, geben wir unser Wesen auf. Wir würden zulassen, dass das Leben im Hier und Jetzt die Oberhand gewinnt. Die Idee der Transzendenz ist für unsere Religionen grundlegend. Sie bedeutet, dass das, was wir heute tun, eine Auswirkung auf die Zukunft hat. Diese Botschaft müssen wir vermitteln, gerade in der heutigen, vom Konsumdenken geprägten Zeit.
Bergoglio: In der Bibel zeigt Gott sich als Erzieher. »Ich habe dich auf dem Rücken getragen, ich habe dir Laufen beigebracht«, sagt er. Es ist die Verpflichtung des Gläubigen, seine Nachkommen beim Großwerden zu unterstützen. Jeder Mann und jede Frau haben das Recht, ihre Kinder in ihren
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