Über Himmel und Erde: Jorge Bergoglio im Gespräch mit dem Rabbiner Abraham Skorka - Das persönliche Credo des neuen Papstes (German Edition)
Gabe Gottes sind. Ich weiß auch, dass der andere, der Atheist, das nicht weiß. Ich lasse mich auf die Beziehung nicht ein, um einen Atheisten zu bekehren, ich respektiere ihn und zeige mich, wie ich bin. In dem Maße, in dem man sich kennenlernt, stellen sich Wertschätzung, Zuneigung und Freundschaft ein. Ich habe keinerlei Vorbehalte, ich würde nicht zu ihm sagen, dass sein Leben verwerflich ist, denn ich bin überzeugt davon, dass ich kein Recht habe, ein Urteil über die Aufrichtigkeit eines anderen Menschen zu fällen. Erst recht nicht, wenn er menschliche Vorzüge aufweist, solche, die die Leute erhöhen und mir guttun. Insgesamt kenne ich mehr Agnostiker als Atheisten. Agnostiker zweifeln mehr, Atheisten sind überzeugt. Wir müssen uns an die Botschaft der Bibel halten: Jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes, ob er nun gläubig ist oder nicht. Allein aus diesem Grund verfügt er über eine Reihe von Tugenden, Qualitäten, über Größe. Und falls es auch Niedrigkeiten an ihm gibt, wie es auch bei mir vorkommt, so können wir uns darüber austauschen, um uns gegenseitig bei deren Überwindung zu helfen.
Skorka : Ich stimme dem, was Sie sagen, voll und ganz zu: Den Nächsten zu respektieren, das ist der erste Schritt. Aber ich würde einen weiteren Gesichtspunkt hinzufügen wollen. Wenn jemand von sich sagt: »Ich bin Atheist«, dann ist das meiner Meinung nach eine arrogante Haltung. Die viel wertvollere Position ist die des Zweifels. Ein Agnostiker denkt, dass er die Antwort noch nicht gefunden hat, während ein Atheist überzeugt ist, zu 100 Prozent überzeugt ist, dass es Gott nicht gibt. Damit legt er die gleiche Arroganz an den Tag wie jemand, der steif und fest behauptet, dass Gott existiert, so wie dieser Stuhl existiert, auf dem ich gerade sitze. Religiöse Menschen wie wir sind Gläubige, und Gläubige halten Gottes Existenz nicht für selbstverständlich. Bei einer tiefen, wirklich sehr, sehr tiefen Begegnung können wir ihn spüren, aber Ihn selbst sehen wir nie. Wir erhalten subtile Antworten. Der Einzige, der laut der Tora explizit mit Gott gesprochen hat, von Angesicht zu Angesicht, war Mose. Allen anderen – Jakob, Isaak – erschien er in Träumen oder auf eine andere indirekte Art und Weise. Wer behauptet, dass Gott existiert, als wäre dies eine Gewissheit unter vielen, erweist sich als arrogant, egal wie überzeugt er ist. Ich kann das nicht einfach behaupten, sondern muss ebenjene Demut an den Tag legen, die ich von einem Atheisten einfordere. Am präzisesten hat es Maimonides in seinen dreizehn Glaubensprinzipien formuliert, wo es heißt: »Ich glaube in ganzem Glauben, dass der Schöpfer jegliche Kreatur schafft und lenkt.« Folgt man dieser Argumentationslinie, dann kann man zwar sagen, was Gott nicht ist, nicht aber, was Gott ist. Man kann seine Eigenschaften aufzählen, seine Attribute, aber unter keinen Umständen darf man ihm eine Gestalt geben. Einem Atheisten würde ich ins Gedächtnis rufen, dass in der Vollkommenheit der Natur eine Botschaft verborgen ist: dass wir ihre Formeln kennen können, nicht aber ihr Wesen.
Bergoglio : Die spirituelle Erfahrung der Begegnung mit Gott ist nicht kontrollierbar. Man spürt, dass Er da ist, man ist sich sicher, aber man kann es nicht kontrollieren. Der Mensch wurde geschaffen, um die Natur zu beherrschen, das ist sein göttlicher Auftrag. Doch mit seinem Schöpfer kann er das nicht machen. Deshalb gibt es in der Gotteserfahrung immer ein Fragezeichen, einen Freiraum, wo man den Glauben wagt. Sie haben etwas gesagt, was teilweise zutreffend ist: Wir können sagen, was Gott nicht ist, wir können von seinen Attributen sprechen, was er jedoch ist, können wir nicht sagen. Diese apophatische Dimension, die verrät, wie ich von Gott spreche, ist in unserer Theologie von grundlegender Bedeutung. Die englischen Mystiker sprechen viel von diesem Thema. Es gibt ein Buch von einem von ihnen aus dem 14. Jahrhundert: The Cloud of Unknowing , ein anonymes Werk, in dem ein ums andere Mal versucht wird, Gott zu beschreiben, und immer endet es schließlich mit dem Hinweis darauf, was er nicht ist. Es ist der Auftrag der Theologie, über religiöse Tatbestände zu reflektieren und sie zu erklären, darunter Gott. Die Theologien, die sicher und exakt nicht nur Gottes Attribute definieren wollten, sondern sogar den Anspruch hatten, ganz genau zu sagen, wie er war, könnte ich ebenfalls als arrogant bezeichnen. Das Buch Ijob ist eine fortwährende Diskussion
Weitere Kostenlose Bücher