Über jeden Verdacht erhaben
bekommen. Die Doppelgräfin war unter Kontrolle und schien sich sogar zu amüsieren.
Blixen hielt Estelle Hamilton mit seinem Charme in einem eisernen Griff. Alles unter Kontrolle – bis auf das, worüber niemand zu sprechen wagte.
Die Gastgeberin erkannte, daß sie die Entscheidung treffen mußte. Ihr Mann war gerade mit starkem und echtem Engagement in eine Diskussion über deutsche Wildschweine vertieft. Und die Entscheidung mußte vernünftigerweise jetzt fallen, bevor der Nachtisch aufgetragen wurde.
Sie stieß gegen ihr Glas und erreichte damit ein ebenso unmittelbares wie verblüfftes Schweigen, da von ihr im Moment ja kaum erwartet wurde, daß sie eine Rede hielt oder einen besonderen Toast ausbrachte, nicht jetzt vor dem Nachtisch.
»Genossen!« rief sie aus und reckte ironisch eine klassenkämpferische Faust in die Höhe. »Ich habe einen Vorschlag zu machen!«
Damit erreichte sie sofort eine amüsierte und verblüffte Aufmerksamkeit, und die Blicke aller richteten sich auf sie.
»In diesem Augenblick kann man erfahren, wie es für Schweden ausgegangen ist«, fuhr sie fort. »Wir sitzen zufällig bei Tisch, wollen aber alle wissen, wie es ausgegangen ist, nicht wahr? Wir machen folgendes!«
Ihr Blick fuhr suchend um den Tisch, bis sie ihren ältesten Sohn entdeckte, der ebenfalls Claes hieß.
»Claes! Geh bitte nach oben und erkundige dich, wie die Volksabstimmung ausgegangen ist!«
Dem jungen Claes fiel es keinesfalls schwer, der Aufforderung seiner Mutter nachzukommen. Teils war er selbst von brennender Neugier erfüllt, obwohl er das mit keiner Miene verraten hatte, teils hörte er ja die gegrunzte fröhliche Zustimmung der älteren Jäger am Tisch. Er eilte unter fröhlichen Anfeuerungsrufen los, während das für den Abend angemietete Personal ein stark kalorienhaltiges Dessert auftrug, dem selbst der stärkste Sauternes kaum beikommen würde.
Als er nach seiner kurzen Kontrolle im Fernsehzimmer im Obergeschoß zurückkam, war sein Gesicht vollkommen ausdruckslos. Möglicherweise hatte sich seine Miene ein wenig verfinstert, doch das war kaum auszumachen. Jedenfalls brachte er keine Siegesbotschaft mit.
»Ich habe eine gute Nachricht und eine schlechte. Welche wollt ihr zuerst hören?« begann er mit angestrengter Baßstimme.
Eine erschreckte Verwunderung breitete sich am Tisch aus.
»Erst die gute Nachricht«, schlug Blixen vor.
»Alles deutet darauf hin, daß die Ja-Seite gewinnen wird«, erwiderte Claes Junior mit dumpfer Stimme. Er machte jedoch kein glückliches Gesicht dabei. Seine Worte lösten eine verwunderte Verstimmung aus, denn in dieser Gesellschaft war alles andere als hundert Prozent für Ja eine undenkbare politische Einstellung.
»Nun, was ist denn die schlechte Nachricht?« fragte seine Mutter.
»Die schlechte Nachricht ist, daß die erste Prognose für das gesamte Land soeben gekommen ist«, fuhr der Sohn mit der gleichen unergründlich verschlossenen, düsteren Miene fort.
»Und sie nennt folgende Zahlen. Also die erste Prognose für das Wahlresultat im ganzen Land. Ja: fünfunddreißig Prozent. Nein: fünfundsechzig Prozent.«
Es wurde vollkommen still am Tisch.
»Du hast dich doch nicht versprochen…«, tastete sich die Schwester des Gastgebers mit einer Miene vor, die zur Hälfte Schrecken und zur Hälfte mühsamen Humor ausdrückte.
»Nein, Tante, die erste Prognose für das ganze Land sieht genauso aus, wie ich es gesagt habe«, fuhr der junge Mann mit perfekt gewahrter Miene fort. »Fünfundsechzig Prozent für nein und fünfunddreißig Prozent für ja. Das ist die erste Prognose der Computer für das ganze Land, und Computer irren sich ja nie…«
Er wurde seines Knalleffekts beraubt, weil seine Tante in Ohnmacht zu fallen schien. Sie wäre nach hinten gefallen und vom Stuhl gerutscht, wenn ihr Tischherr sie nicht mit der Geistesgegenwart des Jägers aufgefangen hätte.
»Aber dann gibt es doch keine gute Nachricht«, keuchte sie.
»Aber ja doch, Tante, gibt es doch«, fuhr der jetzt sichtbar verlegene junge Mann fort. »Die Prognose für das gesamte Land soll nämlich nur auf der Grundlage der schon ausgezählten Wahlbezirke erstellt worden sein. Und jetzt sieht es so aus … Na ja, die haben die Stimmen bisher nur in solchen kleinen Gemeinden in Norrland mit zwanzig Personen oder so fertig ausgezählt… und… na ja, das weiß ja schließlich jeder, wie die Leute da oben sind… Aber sie rechnen damit, daß es ganz anders aussehen wird, wenn die
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