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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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beobachtete.
    Er erkannte sie. Es war die Mutter eines Mannes – und nicht des einzigen –, den sein Sohn mit einem Kopfschuss hingerichtet hatte. Also auch die Großmutter jenes dreijährigen Mädchens, das ganz Italien in den Nachrichtensendungen im Fernsehen sehen konnte, wie es mit einem dunklen Mäntelchen bekleidet eine weiße Rose auf dem Sarg seines Vaters niedergelegt hatte. In den Augen der Frau war kein Hass, noch nicht einmal Groll. Da war gar nichts außer einer grenzenlosen Objektivität. Einen Augenblick wurde Paolo die Gabe der Telepathie zuteil, und ganz deutlich las er in ihren Gedanken: Ihr Sohn lebt noch. Meiner nicht.
    Paolos Faust erstarrte auf halber Höhe, sein Mund wurde trocken, und er ließ die Hand sinken. Und damit verkam auch der Besonderer Gruß, so wie alles.
    Als er an diesem Tag aus dem Gericht heimkehrte, schnitt er das Foto des kleinen Mädchens, das zu Prozessbeginn wieder überall abgebildet war, aus der Zeitung aus, faltete es zusammen und steckte es in seine Brieftasche. Er tat es, um sich ganz bewusst eine Strafe aufzuerlegen, die der Welt unbekannt, für ihn aber greifbar nahe war: ein Stück Zeitungspapier mit einer geringen, aber doch messbaren Konsistenz, einem Gewicht, einer Oberfläche, etwas das er hin und wieder hervorholen, anschauen, berühren konnte. Nur auf diese Weise, so glaubte er, würde er vielleicht diese andere Strafe ertragen können, zu der er verurteilt war, mit einem Strafmaß, das auf »ewig« lautete.
    Seit fast einem Jahr nun musste Paolo seinen Sohn an einem Ort besuchen, der sich durch die gleichen Düfte auszeichnete, das gleiche Licht, die gleiche Schönheit wie jene mythologische Zeit – kein vernünftiger Mensch würde glauben, dass es sie tatsächlich einmal gegeben hatte –, in welcher der Besonderer Gruß entstanden war. Drei Jahre waren seit der Festnahme seines Sohnes vergangen, und nirgendwo waren Paolo die Besuche so schwer gefallen wie in diesem Gefängnis mitten im Meer.
    Ja, er hasste die Insel.
    Doch etwas musste er zugeben: Das offensichtliche Vergnügen, mit dem diese blonde Frau die Insel be trachtete, der gleiche Ausdruck, mit dem sie auch schon während der gesamten Überfahrt übers Meer geblickt hatte, war schön anzuschauen.
    Sie hat ein ehrliches Gesicht , hätte Emilia gesagt, wenn sie bei ihm gewesen wäre.
    Doch Emilia war nicht mehr da.
    Ein grauer Fiat-Geländewagen mit der Aufschrift STRAFVOLLZUGSPOLIZEI , ein himmelblauer Kleinbus, der wohl seit mindestens zwanzig Jahren auf irgendwelchen Straßen unterwegs war, sowie ein Transporter, dessen Farbe unter der dicken Staubschicht nicht mehr auszumachen war, warteten auf der kleinen Mole auf das Anlegen der Fähre. Während ein Beamter am Heck die Passagiere zurückhielt, verließ als Erster, von Nitti und einem weiteren Aufseher in die Mitte genommen, der Häftling das Schiff. Alle beugten sich übers Geländer, um zu beobachten, wie er von Bord ging. In Handschellen bewegte er sich mit langsamen Schritten über den Landungssteg und blinzelte dabei, wie um sich vor grellem Licht zu schützen, obwohl der Himmel mittlerweile bewölkt war. Den Blick hatte er starr auf das aquamarinblaue klare Wasser unter ihm gerichtet, in dem dunkle Umrisse umherschwammen. Auf der Mole angekommen, stießen ihn die beiden Beamten zu dem Geländewagen. Er ließ es geschehen, hatte den Kopf aber gedreht und blickte zurück aufs Meer. Dabei wirkte er wie ein Kind, das eilige Erwachsene vom Schaufenster eines Spielzeugladens wegzerren. Kaum war er eingestiegen, und Nitti mit ihm, fuhr der Geländewagen auch schon Richtung Zentrale los. Erst jetzt erlaubte es der zweite Beamte den übrigen Passagieren, von Bord zu gehen.
    Als Paolo die schmale Stahltreppe zum Unterdeck hinabstieg, kam er an der offenen Tür des Führerhauses vorüber. Drinnen zeigte gerade der zweite Kapitän seinem Vorgesetzten, einem vielleicht fünfzigjährigen Mann mit einem Gesicht voller Sommersprossen, das Barometer hinter ihnen an der Wand.
    Â»So schnell habe ich es noch nie fallen sehen«, erklärte er dazu.
    Â»Sag den Wärtern noch mal, sie sollen sich beeilen und die Leute rechtzeitig zurückbringen«, antwortete der Kapitän. »Um zwölf lege ich ab. Gewartet wird nicht.«
    Auch Luisa trat von der Rampe auf die Mole. Unsicher blickte sie sich um und stellte fest,

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