Ueber Meereshoehe

in der Nähe der »Kittchen« verschont blieb, und selbst dort nur für einige wenige Meter.
    Wenn das Ruckeln und Schaukeln aufhörte, wussten die Insassen des Transporters also, dass sie eine der Außenstellen der Strafanstalt erreicht hatten. Die Gebäude, die dazu gehörten, ließen mit ihren Wachtürmen, dem Stacheldraht und den vergitterten Fenstern keinen Zweifel an ihrer Bestimmung aufkommen. Dennoch strahlten sie alle auch etwas Bukolisches aus, das fast an einen Bauernhof erinnerte: Ein Gefängnis war von den gepflegten Reihen eines Weinberges umgeben, ein anderes von Weiden, auf denen, von Häftlingen gehütet, Kühe grasten, ein drittes wurde von zwei hohen Getreidespeichern überragt. Überall sah man nicht nur Wachpersonal und Freigänger, son dern auch Haus- und Nutztiere: Esel, Hunde, Katzen, Pferde, Schafe und Ziegen.
    Bei jedem Halt stiegen Leute aus. Beim ersten »Kittchen«, dem mit der Viehhaltung, unter anderem auch der Mann mit dem Köfferchen.
    Â»Wie sieht’s aus, Dottore?«, fragte der Fahrer. »Machen wir es wie neulich? Soll ich Sie auf der Rückfahrt wieder abholen?«
    Â»Nein, danke, beim letzten Mal musste ich alle gegen Tuberkulose impfen. Heute schaue ich nur nach, ob es neue Fälle gibt. Das müsste schnell gehen. Ich lasse mich von jemandem mitnehmen, sobald ich fertig bin.«
    Aufmerksam betrachtete Luisa die Kühe, auf die der Tierarzt gezeigt hatte. Sie gehörten zu einer Rasse, die sie nicht kannte. Es hätte sie interessiert, ob es Milchkühe, Mastrinder oder beides waren, wie viel Milch sie gaben, ob die Kühe, die nur einmal gekalbt hatten, sehr viel weniger Milch gaben als die Pluriparen und wenn ja, wie viel. Der Transporter hatte sich aber bereits in Bewegung gesetzt und jagte bald wieder rumpelnd und Staub aufwirbelnd über den Schotter.
    Die Insel besaß einige Erhebungen von, im Verhältnis zur Fläche, stattlicher Höhe, die zu Ebenen hin abfielen, auf denen Weizen, Mais, Hirse und Ha fer angebaut wurden. Die einzelnen Kulturen waren durch niedrige Trockenmauern unterteilt, die man fach männisch nach althergebrachter Art aufgeschichtet hatte. Schmale Streifen aus weißem Sand trennten das Meer von den stehenden Gewässern der kleinen Lagunen dahinter. Ausladende Weingärten, aus denen mal ein Sarazenenturm, mal die Trümmer einer alten Befestigungsanlage hervorragten, wechselten sich mit zerklüfteten Felswänden ab. Hier und dort erkannte man die düsteren Eingänge von Höhlen, in denen vielleicht einmal heidnische Kulte gefeiert worden waren. Nur wenige Meter von den aquamarinblauen Wellen entfernt, galoppierte eine Herde Wildpferde an den verrottenden Reusen einer Fanganlage für Thunfisch entlang.
    Luisa war hingerissen von dieser Landschaft, die so anders war als alles, was sie je zuvor gesehen hatte. Auf der Längsbank, auf der sie saß, war ihr Blick eigentlich ins Wageninnere gerichtet, und so musste sie sich verrenken, um durchs Wagenfenster hinausschauen zu können. Nur in einer besonders heim tückischen Kurve erblickte sie etwas, was ihr vertraut vorkam: ein kleines Kreuz, das mit einem Strauß Trockenblumen geschmückt war.
    Neben den Fahrzeugen, die zum Fuhrpark der Haftanstalt gehörten, wie zum Beispiel die Kleinbusse für den Gefangenentransport oder dieser Transporter, verkehrten auf der Insel auch Privatautos des Gefängnispersonals. Ein Auto aber, das den primitiven Stra ßenverhältnissen angemessen gewesen wäre, einen Geländewagen also, konnten sich nur der Direktor, der Bereitschaftsarzt und wenige andere leisten. Ganz sicher nicht die einfachen Strafvollzugsbeamten. Die kauften von Schrotthändlern auf dem Festland ausrangierte Wagen ohne Nummernschild und Betriebserlaubnis und brachten sie mit der Fähre auf die Insel. Denn in einer Hinsicht konnten sie ganz beruhigt sein: Mochten sie hier auch auf Wildschweine und weiße Esel stoßen, auf Rebhühner, Wildpferde, Uhus oder Mufflons, so doch ganz gewiss nicht auf eine Ver kehrskontrolle. Die Bremsbeläge blank, die Reifen ohne einen Hauch von Profil wurden die Fahrzeuge auf der Inselstraße endgültig ramponiert, verschlissen, zerstört. Jeder Beamte, der einmal, und sei es auch nur für kurze Zeit, auf der Insel Dienst getan hatte, brüstete sich mit dem Erlebnis, wie er einmal fast mit dem Wagen die Klippen hinuntergestürzt sei oder nur mit