Über Nacht - Roman
bewegen. Sie warf einen Blick in einen Atlanten, suchte im
Handbuch Natur
nach dem
Sturnus vulgaris
, dem gemeinen Star, überblätterte die Seiten mit den Fischen.
Himmelsgucker
las sie,
Seeschmetterling.
Sie muÃte lachen. Ihr fiel Davides Geschichte ein, die er ihr einmal erzählt hatte. Er war gerade mal vierzehn Jahre alt gewesen und hatte den Abend am Strand verbracht. Die wenigen Leute waren schon nach Hause gegangen. Der Schatten des Felsens hatte das Wasser erreicht, und Davide, der hinter einem Vorsprung geschützt gewesen war, hatte in einem plötzlichen Anfall seinen Schwanz herausgeholt und ins Meer masturbiert. Aus dem Nichts war ein Schwarm kleiner Fische herbeigeschossen â weg war das Ejakulat gewesen.
Richard hatte ihr nie von solchen Dingen erzählt. Als Irma ihn einmal gefragt hatte, seit wann er denn wisse, daà er homosexuell sei, war er ans Fenster getreten, um sie nicht anschauen zu müssen. «Immer schon», waren seine Worte gewesen.
«Unser Lebensfaden hat eben eine andere Farbe», hatte Davideeinmal gesagt, «besser eine andere Farbe als schlecht gewoben.»
Die Parzen! Die Moiren! Irma bückte sich, suchte nach dem
Lexikon der Mythologie
. Es wollte ihr nicht einfallen, wie die einzelnen Schicksalsgöttinnen heiÃen. Eine, erinnerte sie sich, spinnt den Faden, die andere teilt ihn zu, und die dritte â Irma warf einen Blick in den Park â schneidet den Lebensfaden ab, um ihn nochmals zu verknüpfen.
Atropos flickt
, schrieb Irma wenig später in ihr Notizheft. Wenn nur der Knopf fest genug ist.
Auf dem lautlos geschalteten Handy war eine Nachricht eingegangen.
nie mehr ohne dich,
hatte Friedrich geschrieben. Irma spürte ein feines Ziehen in ihrem Bauch.
Sie betrachtete den Himmel. Das Wiegen der Bäume.
Der Fallschirmspringer war längst begraben, dachte sie.
Irma wünschte, der Zufall, der ihr Leben verändert hatte, läge weiter zurück, so weit, daà seine Verursacher nicht mehr existierten, keine Hinterbliebenen. Sie wuÃte, daà es Menschen gab, die ihre Spenderin betrauerten, daà es Zeugen und Opfer gab, die sie nie kennenlernen würde, und doch kannte sie einen Teil davon, hatte sie ein fremdes Organ in ihrem Körper, das ihr das Leben zurückgegeben hatte. Zeit, die woanders fehlte. Sie hatte über Nacht eine zweite Chance bekommen.
«Zipp-zipp, zit-zitt zipp», hörte sie die Vögel drauÃen, aber sie sah sie nicht. Oder war es doch eher ein Tschilpen, ein Fiepen, ein Trällern, ein Schmettern, gar ein heller Siiih-Laut?
Einmal glaubte sie, einen Mauersegler zu sehen, dann aber zweifelte sie. Die schreien, wenn sie in rasendem Tempo durch die Häuserschluchten fliegen. Vor dem Fahrtwind schützt sie eine Art Motorradbrille, ein Schirm aus steifen, haarartigen Federn. Was für Vögel, dachte Irma. Ihre FüÃe sind völlig verkümmert, sie können sich damit nur an Wänden und Mauervorsprüngenfestklammern. Sie schlafen und paaren sich in der Luft. Ein Leben in den Wolken.
Irma dachte an die andere, sah deren Biographie klar vor sich, ein Leben, das nicht vor Irmas Augen stattgefunden hatte, das sie aber überall sehen konnte, wenn sie nur ihre Augen aufmachte. Sie erzählte es sich selbst, muÃte es sich erzählen, auch wenn es nur ausgedacht war. Vielleicht muÃte sie es ausdenken, zu Ende denken, um den eigenen, zweiten Anfang zu finden.
Der Knopf im Lebensfaden hat einen Namen. Irma griff sich an den Bauch.
Moira, Mara, Maria
, versuchte sie es.
Mauersegler, fiel ihr ein, werden sehr alt, mehr als zwanzig Jahre. Die schaffen sechs Millionen Kilometer, das entspricht acht Flügen zum Mond und zurück.
Ich werde nicht alt.
Ich muà alt werden. Wegen Florian.
Irma sah auf ihre Hände, noch waren sie fest und glatt. Sie wünschte, die Haut sähe einmal aus wie Pergament, dünn, voller brauner Flecken. Doch wenn sie sich im Spiegel betrachtete, lähmte sie die Angst. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie sich einmal verwandelte, nichts mehr dasein würde von dem, was sie jetzt ausmachte. Im Gegensatz zu Richard und Davide, die sich vor dem Alter fürchteten und alles unternahmen, damit es nicht an ihren Körpern sichtbar wurde, träumte Irma davon, daà sie als Achtzigjährige ihr Ich im Photoalbum suchte, daà sie dem Ende entgegenwelkte, doch noch die Möglichkeit bekam, mit der Zeit zu vergehen.
Ich
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