Über Nacht - Roman
und deutete auf die Nachspeise.
«Küà mich,» sagte Irma, «hör nicht auf, mich zu küssen.»
Vor der Evangelischen Schule am Karlsplatz patrouillierten Polizisten, um die Drogenszene der nahen U-Bahn-Passage von den Schülern fernzuhalten; einer der Uniformierten sah Rino ähnlich, vielleicht waren es auch nur die Koteletten, die Irma an Florians Vater erinnerten. Es fiel ihr schwer, den Polizisten nicht anzustarren. In Italien, dachte Irma, sehen die Uniformierten wie frisch gebügelte Tenöre aus. Als sie vor dem ovalen Wasserbecken ankam, in dem sich zahlreiche Enten tummelten und das Spiegelbild der Karlskirche durch ihre Schwimmbewegungen in ein unruhiges Gebilde verwandelten, läutete das Handy. Richard grüÃte nicht, wollte sofort wissen, warum Irma zwei Stunden lang nicht erreichbar gewesen sei. Er wartete auch nicht, bis sie antwortete, sondern warf ihr vor, daà sie sich auf Davides Seite schlüge. Es sei nicht so, wie sie denke; Alexander habe bei ihm übernachtet, weil er und seine Frau gestritten hätten.
«Ich bin immer noch dein Bruder», sagte Richard. «Wie kommst du dazu, Davide bei dir wohnen zu lassen.»
«Wo soll er denn sonst hin.»
«Es ist aus», sagte Richard. «Er will mich nicht mehr sehen.»
Das hätte ich Davide nicht zugetraut, dachte Irma.
«Hilf mir», sagte Richard, «ich kann nicht ohne ihn.»
«Dann behandle ihn doch anders.»
Vor Irma stritten sich zwei kleine Mädchen um einen Ball; das gröÃere kriegte ihn zu fassen, warf ihn von sich weg. Er landete im Wasserbecken; die Enten suchten das Weite.
Als Mutter die Nachricht vom Tod Onkel Alfreds erhalten hatte, war Richard von der Kommode gerutscht und zusammengekauert neben dem Schirmständer sitzengeblieben, die Arme über dem Kopf verschränkt, als habe er Schutz vor Mutters Worten gesucht. Da hatte er geweint, leise, mit bebenden Schultern.
«Ganz ehrlich», sagte Richard, «habt ihr was miteinander?»
«Ich und Friedrich?» Hatte sie Richard schon von ihm erzählt? «Du meinst doch nicht etwa Davide? Sag mal, spinnst du?»
Sie hörte, wie Richard sich die Nase putzte. War er erkältet? Er vergoà doch sonst keine Tränen.
«Ich verstehâ dich nicht», sagte Irma.
Die Blutarmut und andere Nebenwirkungen der Medikamente machten Irma müde, sie überlegte kurz, nach Hause zu fahren und sich hinzulegen, setzte sich dann aber auf eine Bank, um zu verschnaufen. In Gedanken hatte sie schon Schlafcontainer erfunden, die man bei Erschöpfung gegen einen günstigen Stundenpreis aufsuchen kann, schallgeschützte, klimatisierte Ruheplätze an signifikanten Punkten der Stadt, mit papierenen Tüchern und Kopfkissen ausgestattet.
Davide schickte eine SMS, er würde mit Florian nach dem Kindergarten zum Spielplatz gehen, sie könnte sich Zeit lassen.
Irma sah in das Gesicht einer alten Frau, einer Spaziergängerin, und beneidete sie um die gelebten Jahrzehnte, um die unbeschädigte Zukunft, die sie einmal vor sich gehabt hatte, um das selbstvergessene Weiterleben. In Irmas Leben reichten die kleinsten Erschütterungen, und die reparierten Bruchstellen würden erneut auseinanderklaffen. Und Friedrich?
Man darf das Glück nicht delegieren, dachte Irma, als sie wenig später wieder die Bibliothek betrat. Sie lächelte den Portier an. Schon zu lange vertröstet man uns auf das Jenseits. Wir müssen uns die Belohnung sofort holen.
Die Sonne war aus dem Lesesaal verschwunden, aber die Blätter im Park waren noch immer hell.
Ich muà Rino schreiben, dachte Irma. Sie rià eine Doppelseite aus dem Notizheft.
Lieber Rino, wir kennen einander kaum. Kaum
ersetzte sie durch das Wort
nicht
. Sie wuÃte nicht weiter, legte das Papier zur Seite und beschloÃ, in ihren Unterlagen zu lesen. Nach dem Friseur, der ihr von seinem Freund, dem Perückenmacher, erzählen würde, wollte sie einen Südtiroler Vogelfänger interviewen. Er war schon vierundneunzig und wohnte in Prösels, einem kleinen Dorf unweit von Völs am Schlern. Sein Neffe gehörte lange Zeit zu den bekanntesten Vogelzüchtern Italiens, war mit vielen Preisen bedacht worden. Vielleicht kann ich mit Florian und den Eltern ein paar Spätherbsttage in den Dolomiten verbringen, überlegte Irma. Oder mit Friedrich.
Als ihre Beine einzuschlafen schienen, stand Irma auf, um sich ein wenig zu
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